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viel übrig. Im Arabesk wird mehr geheult als Fäuste geballt. Es ist die Musik der
Gecekondu , der über Naht hohgezogenen Armenviertel. » Dolmuş -Musik« nannten
die alten Istanbuler es verähtlih. Im Staatsradio lief seit Jahrzehnten nur europäis-
he Klassik und türkishe Kunstmusik. Die Anatolier, die Bauern, die Armen, sie
hörten lieber ägyptishes Radio, sahen ägyptishe Filme. Dann, als sie nah Istanbul
zogen, Arabesk. Der Ausbruh aus dem Dorf, der Aubruh in eine neue Welt prägt
den Arabesk, aber es ist eine Freiheit, die in den alten Shranken steken bleibt: Von
Ehre, Tradition und alter Männlihkeit singen auh die neuen Lieder. Werte, mit den-
en sih die Männer die Anonymität und den Überlebenskampf erträglih zu mahen
suhen.
Baba , Vater des Genres, ist der bereits mehrfah genannte Orhan Gencebay, ein
Ausnahmemusiker, der sih mit seinem Talent und seiner Ernsthatigkeit, mit der
er den ewigen hemen Shmerz und Entfremdung nahspürt, Respekt erworben
hat wie kein anderer Arabesksänger. An Popularität überragt hat ihn zeitweise nur
Ibrahim Tatlıses. Der Türken Shnulzenkönig, der Türken Lieblingskurde. In den
Ahtzigern, auf dem Zenith seiner Karriere, gab es in der Türkei die zwei Kurden
Apo und Ibo: der eine verhasst, der andere vergötert. Apo (Abdullah Öcalan) führte
seine Anhänger von der Kurdishen Arbeiterpartei PKK in Befreiungskampf und
Terror, Ibo trat bei Konzerten in Kurdengebieten auf die Bühne und verkündete
brav, er sei »Türke kurdisher Abstammung«. So wurde er zum Vorbild - seinen
türkishen Fans als Musterkurde; seinen kurdishen Fans als einer der ihren, der es
geshat hate: Auh ein Kurde konnte reih und berühmt werden, mit den shön-
sten Frauen des Landes shlafen und vom Staatspräsidenten Turgut Özal und dessen
Ehefrau Semra zum Hofsänger bestellt werden. (Berühmte Präsidentensätze. John
F. Kennedy vor dem Rathaus Shöneberg in Berlin: »Ih bin ein Berliner.« Mihail
Gorbatshow in Ostdeutshland: »Wer zu spät kommt, den bestrat das Leben.« Tur-
gut Özal am Steuer seines Autos auf der Bosporusbrüke in Istanbul: »Semra, leg die
Ibo-Kassete ein!«) Zu jener Zeit liefen auf den Kanälen des staatlihen Fernsehens
niht selten zwei oder drei Ibo-Shows gleihzeitig. Ibo war salonfähig geworden, der
erste Künstler, der sih einen Privatjet leistete. Bald nannte er ein Busunternehmen
und eine Fast-Food-Kete sein Eigen, die türkishe Pizza (»Tatlıses-Lahmacun«) ser-
vierte. Der arme Bauernsohn aus Urfa hate es geshat. Wenigstens einer.
Unzählige Filme haben sie gedreht, die Helden des Arabesk, die meisten folgen
demselben Strikmuster: Aus der Provinz anreisender Held steigt in Istanbul aus dem
Bus mit nihts als seiner Saz und seiner Nahtigallenstimme, shlägt sih in eines
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