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halle verbreiteten sih als Erstes die Erlebnisse und Münhhausereien der Ferienrük-
kehrer aus Deutshland. Die Geshihten von den sauberen Straßen, auf denen niht
einmal eine Kippe herumliegt. Von den modernen Fabriken, in denen man niht den
ganzen Tag Tee trinken darf. Von wundersamen Mashinen, die einem alle Arbeit
abnehmen: »Wenn ih's euh sage: Ih drük nur einen Knopf!« Dort bestaunte man
die mitgebrahten Kassetenrekorder, dort versammelte man sih ehrfürhtig um den
Hauptgewinn eines jeden Gastarbeiterlebens: den gebrauhten Mercedes, gegen den
kein Anadol, kein Tofaş (ein Fiatnahbau) und kein türkisher Renault (ein Joint Ven-
ture der Armee) bestehen konnte. Die Mahalle war eine so wihtige Einheit im Leben
der Türken, dass Ministerpräsident Adnan Menderes (er regierte von 1950 bis 1960 )
einst seine Wahlkämpfe bestrit mit dem Spruh: »Jeder Mahalle ihren Millionär!« -
ein Versprehen, das erst mehr als drei Jahrzehnte später eine Reihe von Koalition-
sregierungen auf brillante Weise einlöste: Ihre Politik shikte die türkishe Lira in
den freien Fall und mahte so in den Neunzigern noh die Betler zu Millionären.
Jeder passte auf jeden auf. Im guten wie im shlehten Sinne. Kinder waren auf
der Straße siher. Und wenn der Vater sie oder die Ehefrau brutal verprügelte, dann
nahm ihn auh mal einer der Älteren zur Seite und ermahnte ihn. Gleihzeitig kon-
nte es sih kein Mädhen erlauben, allein mit einem Jungen gesehen zu werden,
und keine Frau, spät nah Hause zu kommen. Liebesafären waren eine riskante
Sahe. Früher gab es in den konservativen Vierteln die Tradition des Mahalle baskını ,
des »Stadtviertelüberfalls«. Da roteten sih die sitenstrengen Männer des Viertels
zusammen und stürmten unter viel Geshrei und gerehter Empörung jene
Wohnung und jenes Shlafzimmer, in dem sie unzühtiges Treiben vermuteten. Noh
heute maht die kemalistishe Opposition Front gegen eine Auhebung des Koptuh-
verbotes an türkishen Universitäten mit der Angstparole von der Mahalle baskısı,
vom »Stadtvierteldruk« - die türkishe Version des deutshen »Gruppenzwang«.
Wenn man das Koptuhverbot freigäbe, so die Argumentation, dann sorge die kon-
servative Mahalle im Handumdrehen dafür, dass auh jene Mädhen, die sih niht
bedeken wollen, zum Koptuh gezwungen würden.
Die klassishe Mahalle bestand aus den Holz- und Steinhäusern des alten Istanbul.
Der Aufstieg des Betons war gleihzeitig ihr Niedergang. Der moderne Istanbuler
wohnte nun im Apartman . Bei zufälligen Begegnungen auf der Straße kam es shnell
zur Frage: »Im wievielten Stok?« Die stolze Antwort: »Im driten.« So hoh! Die
Mahalle begegnete den ersten Appartementgebäuden zwishen ihren alten Häusern
mit Unsiherheit und Argwohn: Das waren die Unkontrollierbaren. Da wusste man
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