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Es ging um die Bewertung des großen Aufbruchs der tschechoslowakischen Kommunisten
und der ihm folgenden Invasion vom 21. August 1968, die zunächst noch nicht von allen, auch
nicht von Kundera, als Ende aller Träume angesehen wurde. Alexander Dubček war ja noch eine
WeileimAmt.KunderananntedenProtestderTschechengegendiePanzerderSowjetunionund
ihrerVerbündetenein»aufimmerunvergesslichesErlebnis«.DasVolk,das»nachdenklichsteund
gebildetste« in dieser Hälfte Europas, habe »seine eigene Größe erblickt«. »Ich bin überzeugt von
der großen Berufung der kleinen Völker«, schrieb Kundera am 19. Dezember 1968. Der Prager
Frühling habe gezeigt, »welch unermessliche demokratische Möglichkeiten im sozialistischen
Gesellschaftsprojekt bislang brachliegen«.
Václav Havel antwortete mit dem Vorwurf des »pseudokritischen Illusionismus« und reihte
Kunderas Artikel in eine »Tradition selbstbewundernder erweckungspatriotischer Trugbilder«
ein. Die Betonung der besseren Vergangenheit lenke ab von der schlechteren Gegenwart. Gegen
Kunderas Formel vom historischen »tschechischen Los« setzte Havel die Forderung: »Unser
Schicksal hängt von uns ab.« Kundera entgegnete darauf im September 1969, die »neue Politik«
sei nach der Invasion zwar zurückgewichen, aber keineswegs besiegt worden - eine Analyse, die
bald von der Realität widerlegt wurde. Die »Normalisierung« unter dem neuen KP -Chef Gustav
Husak trieb für zwanzig Jahre alle Hoffnungen aus.
Dass nun die Literárnínoviny diese Polemik in der ersten Januar-Nummer 2008 nachdruckte,
war zum Teil wohl der Eleganz und dem Niveau der Auseinandersetzung geschuldet, die der
Chefredakteur Jakub Patočka in die heutige Zeit herüberretten wollte. Jede Woche ließ er die De-
batte von Intellektuellen fortschreiben, bis zum Jahresende. Bekannte Autoren beteiligten sich, so
der Politologe Jiří Pehe und der frühere Außenminister Jiří Dienstbier, außerdem Philosophen,
Soziologen und Historiker.
Jedoch die Macht des Wortes ist heutzutage gebrochen durch jene kulturelle Verwahrlosung,
die nach 1989 mit dem Vordringen der Boulevard-Medien einherging. Die Literární noviny , die
einst rund dreihunderttausend Käufer fanden, kommen heute nur noch auf wenige Tausend
Druckexemplare. Die Redaktion, die einen eigenwilligen Linkskurs verfolgte, wollte mit der Re-
prise der Havel-Kundera-Kontroverse offenkundig das Nachdenken darüber anstoßen, was vom
Prager Frühling bleibt und wie unter heutigen Bedingungen das kulturelle Leben wieder seine
alte Lebendigkeit erlangen könnte. Ein dritter Weg zwischen 1968 und 2008 wurde gesucht.
Das Echo war gering, auch die Titanen von damals hielten sich bedeckt. Václav Havel mochte
zurSeriekeinenBeitragleisten,dochließergegenüberderZeitung Hospodářskénoviny anklingen,
wieerdasThemaheuteeinordnet:»DasJahr1968istgekennzeichnetdurchdieIdeologiedesRe-
formkommunismus, während die Leute im Jahr 1989 keinen Sozialismus mit menschlichem Ant-
litz mehr wollten.« Fall erledigt.
Wie Kundera es sieht, blieb ungesagt. Er schwieg. Man hat sich allenfalls an seine Nachbe-
merkungzur»deinitiven«tschechischenAusgabeder»UnerträglichenLeichtigkeitdesSeins«zu
halten,jenerErzählungüberdieLiebe,dieimHintergrundsehreindringlichdieInvasionvom21.
August1968undihreFolgenabbildetunddieauchdasEndederGeschichtederTschechenthem-
atisiert. Das Werk, schrieb Kundera, sei »ein Roman und nichts als ein Roman«.
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