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allen - die des Genueser Arbeitersohns, der sich ganz allein auf den Weg nach Argentinien
macht, um seine dort Arbeit suchende, verschollene Mutter aufzuspüren: Vom Apennin zu
den Anden (mit 40 Seiten auch die längste), über die ich als Kind viele Tränen vergossen
habe, beim Lesen und dann noch einmal beim Betrachten des gleichnamigen Films, den
Flavio Calzavara im Jahre 1943 drehte.
Dabei bin ich mit Haut und Haaren den Absichten des Autors erlegen, habe mich im
Schicksal des armen Knaben, der auf der verzweifelten Suche nach seiner Mutter die halbe
Welt durchquert, geradezu verloren. Eines Tages nähert er sich einer Kutsche, um etwas
zu erfragen. Seine Mutter sitzt darin, er ist nur einen Schritt davor, sie wiederzufinden,
doch bevor die beiden sich gesehen haben, fährt die Kutsche weiter - eine geniale,
erschütternde Idee. An die schmerzlich enttäuschten Seufzer des ganzen Saales im
Kinodunkel, als die Kutsche losfährt, erinnere ich mich bis heute.
Ein einzigartiges Buch also, von hohem emotionalen Identifikationswert und einer,
gemessen an den Kanones des Jahrhundertendes, relativ innovativen Struktur.
De Amicis war nicht annähernd so naiv, wie wir naiven Leser es uns vielleicht
vorstellen. Im Gegenteil, er wusste sehr genau, was er wollte: in erster Linie uns dazu
bringen, Tränen zu vergießen, was ihm in meinem Fall vollkommen gelungen ist. Dann,
durch die Rührung das Ziel zu erreichen, das er im Vorwort ganz offen erklärt: «Ihr
werdet jetzt dieses Buch lesen, Kinder», schreibt er, «ich hoffe, dass es euch gefällt und
dass es bei euch Gutes bewirken wird.» Cuore sollte also Gutes bewirken. Der Autor ist
überzeugt, dass die Literatur einen moralischen Zweck hat, eine Überzeugung, bei der er
auch bleiben wird, als er sich den Ideen des Sozialismus zuwendet. In einem Interview
mit Ugo Ojetti unterstreicht er 1895 noch einmal: «Die Kunst, wenn sie Kunst sein will,
darf nicht predigen, sondern sie muss einen Zweck haben.»
Das «Gute», das die Lektüre von Cuore bewirken sollte, bestand auch in der Verbreitung
jener in der angelsächsischen Mentalität tief verwurzelten und in den romanischen
Ländern sehr viel schwächer ausgeprägten «Arbeitsethik». In die Sichtweise eines
Piemontesers im späten 19. Jahrhundert übersetzt hieß das: Solidarität unter den Klassen,
Gemeinsinn oder, wenn man so will, Vaterlandsliebe (häufig die Bezugnahmen auf die
Fahne, das Heer), guter Wille, gutes Gewissen. Werte, die heute als überflüssig oder
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