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hilft dem Leser, sich in der kleinen Menge zu orientieren, sie hat aber auch eine
rhetorische Funktion. Sie macht deutlich, dass wir es nicht so sehr mit echten Kindern aus
Fleisch und Blut zu tun haben, sondern eher mit Typen, mit Rollen, die ein jedes von
ihnen zu spielen hat, gelegentlich auf Kosten der Wahrscheinlichkeit. Von den ersten
Seiten an präsentiert sich Cuore also mit den Charakteristika eines «Heldenepos» oder,
wenn man so will, mit einer Agitations- oder Propaganda-Dramaturgie. Wie im
Jesuitentheater oder in Bertolt Brechts epischem Theater, wie in der Odyssee - wenn man
auf den höchsten und historisch am weitesten zurückliegenden Archetypus zurückgreifen
will - dient die Wiederholung dazu, dem Leser vorzuführen, dass die Menschen, die er vor
sich hat, von Kräften getrieben sind, die sich der Kontrolle ihres eigenen Willens
entziehen. Sie folgen nur der Funktion, die sie auszuüben haben.
Ringsherum und über der Kinderschar sind da die Lehrer, die Eltern, die Lehrerinnen,
von denen es zweien bestimmt war, sprichwörtlich zu werden: Eine wird «das Nönnchen»
genannt, «weil sie immer dunkel angezogen ist, mit einer schwarzen Schürze, und ein
kleines, blasses Gesicht, immer ganz glatte Haare, helle Augen und ein Stimmchen hat,
das dauernd Gebete zu murmeln scheint».[ 6 ] Die andere ist die noch berühmtere junge
Lehrerin «mit einem rosigen Gesicht, die zwei niedliche Grübchen in den Wangen hat und
eine große rote Feder auf dem Hut … Sie ist immer fröhlich.»[ 7 ] Zwei halblegendäre
Figuren, die sich in der Mythologie der Schule von anno dazumal tummeln, mitsamt den
von den Kerben der Spitzer eingeritzten Schulbänken, den notorisch leeren Tintenfässern
und der auf der Tafel entlangkratzenden Kreide.
Der Stoff ist also einfach, die Gliederungsstruktur dagegen umso differenzierter. Da ist
die Erzählung Edoardos, der als Zeuge spricht, was ihn zu ständiger Anwesenheit
verpflichtet. Da sind die Briefe, mit denen der Vater, aber auch die Mutter, in einigen
Fällen die Schwester des Protagonisten sein Tagebuch nachträglich ergänzen - ein
Kunstgriff, der dem Autor das Heraustreten aus der kindlichen Optik und die
Einbeziehung eines erwachsenen Standpunktes erlaubt. Schließlich sind da die in «neun
Monatserzählungen» gefassten Geschichten, deren Hauptfigur jeweils ein Kind aus einer
Region des gerade geschaffenen Königreichs Italien ist. Darunter: Der kleine lombardische
Späher, Der kleine florentinische Schreiber, Der sardische Trommler und - die berühmteste von
 
 
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