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überholt, sogar abwegig gelten könnten, deren Fehlen aber allenthalben zu spüren war
und bis heute zu spüren ist.
Nachdem die Einheit Italiens mehr schlecht als recht vollzogen war, war es notwendig,
das Zusammenleben auf einheitliche Verhaltenskodizes zu gründen. Die Einführung
solcher Kodizes war eines der Anliegen des Buches. Ein Beispiel von vielen: der herzliche
Empfang, der dem Schüler Coraci, einem Knaben aus Kalabrien, in jener 3.
Grundschulklasse mit lauter Piemonteser Kindern zuteil wird. Das kulturelle Gefälle war
damals so schwer zu überwinden wie heute für die diversen Coracis, die inzwischen
vielleicht Mehmed, Murat oder Josip heißen.[ 8 ]
Die Schule ist das Abbild der Gesellschaft, gemeinsam bewältigen die Schüler und die
Lehrer nicht nur den Unterricht, sondern die schwierige Aufgabe, einige Stunden am Tag
miteinander denselben Klassenraum zu teilen. De Amicis beharrt auf dem Konzept: «Es
sieht so aus, als mache die Schule sie alle gleich und zu Freunden.» Oder: «Es lebe die
Schule, die aus euch eine einzige Familie macht, aus denen, die eine haben und denen, die
keine haben.» Die Schule als ein Ort, an dem man nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen
lernt, sondern auch das Zusammenleben mit anderen, wenn schon nicht im Geiste der
Brüderlichkeit, so doch zumindest im Geiste der Solidarität, wo eine nationale Identität
konstruiert wird. Die beiden einzigen Personen, die sich in diese fortschrittliche Vision
nicht einbinden lassen, sind nicht von ungefähr Carlo Nobis, der blaublütige eitle Fatzke,
und der unglückselige Subproletarier Franti. Weder der eine noch der andere hat teil an
den von allen Übrigen anerkannten Werten. Sie verweigern sich ihnen sogar, erachten sie
- aus entgegengesetzten Motiven - als für ihre Außenseiter-Position in der großen
bürgerlichen Ordnung unbrauchbar. Von diesen beiden Extremen abgesehen bindet die
Pädagogik von Cuore die gesamte gesellschaftliche Bandbreite in ein harmonisches Ganzes
ein: die Welt des Handwerks, die des Gewerbes, die neu entstandene
Industriegesellschaft, die De Amicis bei der Weltausstellung von 1878 in Paris so
bewundert hatte.
Nur durch ein massives Aufgebot an Kollektiverziehung war eine solche Gesellschaft zu
erreichen. Dabei wurde die Professionalität eines jeden dazu genutzt, um so etwas wie
«Pflichtbewusstsein» zu verbreiten und populär zu machen. Zur Umsetzung dieses
 
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