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fast nirgendwo in Europa. Kein anderes Volk hat jemals so gegensätzliche Bewertungen
erfahren, auch deshalb, weil kein anderes Volk sich selbst so gegensätzlich bewertet hat.
Die Art und Weise, wie die Ausländer die Italiener gesehen haben, ist also zu einem
Gutteil die logische Konsequenz der Art und Weise, wie die Italiener sich selbst gesehen
haben. Das war früher nicht anders als heute, und heute kann man das unter anderem
daran sehen, dass Urteile über Italien, die von Zeit zu Zeit von «maßgeblichen»
Publikationsorganen im Ausland gefällt werden, im Allgemeinen auf Beobachtungen und
Einschätzungen beruhen, die vorher schon in italienischen Zeitungen zu lesen waren.
Vor etlichen Jahren haben Studenten der Princeton University, nach einer Definition
der italienischen Wesensart befragt, mit breiter Mehrheit die folgenden drei Adjektive
gewählt: artistic, impulsive, passionate. Die sozialpsychologische Untersuchung, zu der die
Antworten gehörten, liegt zwar schon fast dreißig Jahre zurück, ich glaube aber nicht,
dass sich das Urteil seither wesentlich geändert hat, nicht zuletzt deshalb, weil es
zweihundert Jahre zuvor auch nicht sehr viel anders ausgefallen war - in einigen Fällen
sogar noch krasser, da Impulsivität und Leidenschaftlichkeit meist auf Verbrechen, Verrat,
Korruption bezogen wurden. Ich habe diese Untersuchungsergebnisse bereits in einem
meiner vorhergehenden Bücher zitiert, und ich wiederhole sie hier, weil ihre Gültigkeit,
wie auch immer man diese bewerten mag, auch durch meine eigenen Erfahrungen
während langjähriger Auslandsaufenthalte bestätigt wurde. Diese oder ähnliche Adjektive
in Bezug auf Italien habe ich immer wieder gehört. Lucio Sponza, ein aus Venedig
stammender, in England lehrender Ökonomie-Professor, hat sich lange Zeit mit der Frage
beschäftigt, aufweiche Weise und mit welchem Resultat sich im 19. Jahrhundert in
Großbritannien das Bild Italiens geformt hat. Eine mögliche Synthese ist folgende: «Auf
der einen Seite der Medaille ist da ‹Italien›, das Land der Schönheit und der Kultur; auf
der anderen sind da die ‹Italiener›, eine geniale, aber korrupte, unzuverlässige und
undisziplinierte Spezies.»[ 3 ] Diese Bewertung ist in sich so widersprüchlich, dass sie jede
der beiden Einzelaussagen ad absurdum führt: Wie soll ein so «korruptes, unzuverlässiges
und undiszipliniertes» Volk eine solche Tradition nicht nur der Schönheit, sondern einer
harmonischen, kohärenten, liebenswürdigen Schönheit zustande gebracht haben? Die
Macht der Vorurteile liegt aber gerade darin, dass sie von jeglicher Kohärenz absehen und
 
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