GESICHTER MAILANDS - Die Geheimnisse Italiens - page 159

politischen Gesellschaft, auch «Kaste» genannt, bei weitem überlegen. Galli zufolge
reflektieren diese beiden «Gesellschaften» - sofern sie überhaupt klar zu unterscheiden
sind - einander wie in einem Zerrspiegel. Es ist kein Zufall, dass Silvio Berlusconi 2001 in
Parma die Versammlung der italienischen Arbeitgebervereinigung Confindustria[ 8 ] mit
dem berühmten Satz «Euer Programm ist mein Programm!» dazu brachte, vor
Begeisterung aufzuspringen und Beifall zu klatschen. Berlusconi war hier ein Unternehmer
unter vielen Unternehmern, er, der als Politiker eigentlich die Interessen der
Allgemeinheit hätte verkörpern müssen, nicht die einer Klientel. Und es ist kein Zufall,
dass sich der Enthusiasmus derselben Unternehmer so weit abkühlte, dass sie ihn am Ende
politisch fallenließen, als ihnen nämlich (endlich) klar wurde, dass Berlusconis Programm
in Wirklichkeit nur «sein» Programm und nichts anderes war.
Galli zufolge haben einige große Geister, darunter ein Atheist und ein liberaler
Katholik, nämlich Leopardi und Manzoni (man könnte aber auch Gramsci dazustehen), zu
den wenigen gehört, die bis ins Detail den rückwärtsgewandten Charakter beschrieben
haben, von dem die Führungsklassen des Landes befallen sind, was nicht zuletzt ein Grund
für die Pannen und Verspätungen bei der Aktualisierung, der Modernisierung und dem
Prozess der Vereinigung Italiens war.
Dabei hatte die Geschichte des vereinten Italien einmal ganz anders begonnen. Über das
gesamte 19. Jahrhundert hinweg hat es zum Wohle der Effizienz und der Redlichkeit in
den hohen Rängen der Verwaltung des Königreiches eine deutliche Übermacht aus dem
Piemont gegeben. Auch der Conte di Cavour hatte das so gewollt: Seine «Piemonteser»
schienen ihm die solideste Garantie, um der Zersplitterung und der verbreiteten
Korruption vor allem in der süditalienischen Gesellschaft entgegenzuwirken. Der
italienische Finanzwissenschaftler und spätere Staatspräsident Luigi Einaudi schrieb am
23. Juni 1900 in der Turiner Tageszeitung «La Stampa» in einem Kommentar:
Wir [Piemonteser] haben einen überdurchschnittlichen Prozentsatz an hohen und niedrigen Beamten gestellt;
das war in den ersten Jahren aber auch notwendig, um die nationale Einheit mit einer Staatsbürokratie zu
festigen, die vom Geist der Einheit und der Ergebenheit gegenüber den Regierungsbehörden durchdrungen war;