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eine solche Bürokratie konnte man nirgendwo anders finden als im Piemont.
Die Studien zu diesem Thema sind in ihren Schlussfolgerungen praktisch einhellig.
Besonders aufschlussreich ist die Untersuchung Prof. Sabino Casseses, die den Kern eines
Problems, das man als «historisch» bezeichnen kann, bereits im Titel auf den Punkt bringt:
Questione amministrativa e questione meridionale (Die administrative Frage und die
meridionale Frage, Mailand 1977). Die beiden «Fragen» werden als zwei Seiten desselben,
in einem halben Jahrhundert Einheitsgeschichte nie gelösten Problems gesehen: die
Teilung, manche sagen sogar die tiefe Spaltung zwischen einem «produktiven», im Norden
konzentrierten Land und einer meist als «unproduktiv» erachteten Bürokratie, wie sie vor
allem im Süden überreichlich vorhanden ist.
Das Vorherrschen der Piemonteser in der öffentlichen Verwaltung war aber nur von
kurzer Dauer. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts war unübersehbar, dass die
Mehrheit der Beamten und des administrativen Führungspersonals des Staates aus den
südlichen Regionen kam. Der aus Como stammende Sozialist Filippo Turati erklärte am
26. Juni 1920 bei der Vorstellung der letzten Giolitti-Regierung:
Der Mezzogiorno ist das große Gewächshaus, fast das einzige Gewächshaus der gesamten italienischen
Bürokratie auf allen Ebenen, vom Abteilungsleiter bis zum Gefängniswärter. … In Oberitalien, einer
Industrieregion, kann man sagen, dass es keinen einzigen Absolventen unserer Technischen Hochschulen,
unserer Höheren Schulen gibt, der einen Posten in einem Büro des öffentlichen Dienstes anstrebt. Diese Posten
sind reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für diejenigen geworden, die ich, wenn der Ausdruck nicht zu
kindisch wäre, arbeitslose Kopfarbeiter nennen würde, ungeeignet für jede nutzbringende Dienstleistung.
Der Ausdruck war alles andere als «kindisch», er war sogar ausgesprochen hart, spiegelte
brutal die verbreitete öffentliche Meinung wider, die sich bis heute fast unverändert
gehalten hat. 1919, also etwa zur selben Zeit, bestätigte Carlo Jemolo, der große Jurist
und Historiker, mehr oder weniger dieselbe Realität: «Die Staatsverwaltung wird belagert
von den lästigen Gesuchen zahlloser Kleinbürger, die unfähig sind, eine einträgliche Arbeit
auf gewerblichem Gebiet zu finden, und denen es an der notwendigen Tatkraft fehlt, den
Kittel eines Arbeiters anzuziehen.»
Ich habe an diese Vorgeschichte erinnert, weil auch die Zahlen belegen, dass, kaum
waren die allerersten Jahre des Piemonteser Übergewichts vorbei, die gesamte Geschichte
des vereinten Italien mit einer Meridionalisierung des Staates einherging, einem immer
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