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camorristische omertà und der amoralische Familismus sowohl in der Politik als auch im
familiären Kontext ein jahrhundertealtes Merkmal der Gesellschaft ist».[ 6 ] Diese Tatsache
muss man sich immer vergegenwärtigen, wir werden darauf zurückkommen. Doch ist
Neapel niemals nur dies gewesen, ist es bis heute nicht. Im 18. Jahrhundert war die Stadt
eine der wichtigsten Kulturstädte Europas, eine Kapitale der Musik und des Theaters.
Berühmt waren die raffinierten Darbietungen ihrer Musiker, aber auch die innovativen
Aufführungen in Theatern, Kirchen, privaten Einrichtungen oder in den Palazzi der
wohlhabenden Familien. Die Operntradition der Neapolitanischen Schule - Giovanni
Paisiello, Alessandro Scarlatti und Domenico Cimarosa, um nur drei der bekanntesten
Namen zu nennen - hat ein Jahrhundert lang den Ton angegeben. Der feine Einsatz der
menschlichen Stimme zum Ausdruck von Gemütszuständen und Affekten (Belcanto), die
Gesangsvirtuosität und die brillante Melodik waren lange Zeit konkurrenzlos. Da musste
schon Mozart kommen, um diesen Primat zu brechen.
Im Jahrhundert der Aufklärung gab die Wiederentdeckung der Antike mit den
Ausgrabungsstätten Pompeji und Herkulaneum, den Tempeln von Paestum, zusammen mit
dem Zauber der Küstenlandschaft, den Inseln im Golf von Neapel, der goldenen
Leuchtkraft des Himmels, den wie Parks aussehenden Nutzgärten und der
duftgeschwängerten Luft der Stadt die schon bei den Römern anerkannte Aura der
Campania felix (glückliches Kampanien) zurück.
Während all dies geschah und sich den staunenden Augen des Reisenden dieses Wunder
der Natur präsentierte, trat auf der anderen Seite, mit gleicher Wucht allerdings, das
zweite Gesicht Neapels zutage, schwarz und bösartig. Der größte viktorianische
Schriftsteller, Charles Dickens, schrieb seinem Freund John Forster: «Was gäbe ich nicht,
könntest Du die Lazzaroni sehen, wie sie wirklich sind - nichts als schmutzige,
verworfene, elende Thiere, auf denen Ungeziefer sich mästet; träge, schleichende,
häßliche, schäbige, gassenkehrende Vogelscheuchen!»[ 7 ]
Die lazzari oder lazzaroni schienen den lieben langen Tag nichts zu tun und von nichts zu
leben. Meist nur mit ein paar Lumpen bedeckt, schlugen sie sich mit Gerissenheit,
Gelegenheitsjobs, kleinen Betrügereien, Taschendiebstahl, Raub durchs Leben; begünstigt
durch das milde Wetter, die vielbesungene Sonne, eine verschwenderische Natur. 1799
 
 
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