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bezeichnet Neapel als eine janusköpfige Stadt: «Je nachdem, wie man sie betrachtet, kann
sie ‹äußerst verzweifelt) oder ‹äußerst glücklich) sein.»
Vielleicht liegt Neapels Dilemma darin begründet, dass, zu welchem Urteil man auch
immer gelangt, es immer zutreffend ist. Die Großartigkeit und die Verworfenheit, die
Schönheit und der Schrecken, eine Liebenswürdigkeit und eine Grausamkeit, die beide aus
weit zurückliegenden Zeiten zu stammen scheinen. Denn wäre Neapel nur Schrecken und
Brutalität, wie es die Nachrichten immer wieder nahelegen, wäre das Kopfzerbrechen
über die Frage, wie all das passieren kann, was passiert, überflüssig.
Der Salernitaner Wissenschaftler Isaia Sales führt in seinem Werk Le strade della violenza
(Die Wege der Gewalt) die quantitative Dimension des Desasters vor: 3500 Camorra-
Morde in 25 Jahren - das ist Bürgerkriegsniveau. Kriminelle Banden, die archaisch sind
und postmodern zugleich, mit eigenen Riten und Modellen, die auf antike Traditionen,
primitive heidnische Kulte und das Christentum zurückgreifen, aber auch auf Kino und
Fernsehen, die über zur «Familie» gehörende Schlagersänger und Auftragsdichter populär
gemacht werden, bilden eine eigene Realität, die mit einer Vorstellung von
Zivilgesellschaft nichts zu tun hat und von ihr auch vollkommen abgeschottet ist. Sales
beschreibt eine Kultur, eine Lebensart, eine Welt, die sich zu einem perversen
gesellschaftlichen Organismus formiert hat. Dieselben Fakten, die Sales in
wirtschaftssoziologischen Begriffen darstellt, hat Roberto Saviano in seinem Buch Gomorra
in Form einer Reise ins ökonomische Reich und den Herrschaftstraum der Camorra
erzählt - was noch beeindruckender ist, weil die Beispiele direkt aus dem Leben der
beteiligten Männer, Frauen, Jugendlichen, sogar Kinder genommen sind. Saviano ist selbst
in einer Gegend aufgewachsen, in der die Camorra Gesetz ist, in der es der Traum der
jungen Männer ist, eine Pistole, Geld, Frauen, ein schnelles Auto und einen Tod als echter
Mann zu haben, also «von irgendjemandem erschossen» zu werden.
Es ist zutreffend, was der neapolitanische Essayist Enzo Golino schon vor Jahren
geschrieben hat, dass nämlich in der Stadt des italienischen Mezzogiorno «die
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