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1923 hat Benedetto Croce, der große Philosoph und Wahlneapolitaner, den Essay Un
paradiso abitato da diavoli (Ein Paradies, das von Teufeln bewohnt ist) publiziert. Diese
zum geflügelten Wort avancierte Titelzeile ist eine ursprünglich aus dem 14. Jahrhundert
stammende Redewendung. Croce versucht, die Gründe für das Phänomen zu erläutern, die
vielleicht «dem Spektakel feudaler Anarchie [geschuldet sind], das die Stadt den Bürgern
der mittel- und norditalienischen Städte und Republiken bot …, dem Spektakel von Armut
und Müßiggang und der aus Armut und Müßiggang hervorgehenden Laster, das sich den
Kaufleuten aus Florenz und Lucca und Pisa und Venedig und Genua bot, die sich
geschäftlich hierher begaben.» Er schließt:
Wenn wir heute noch demselben alten Vorwurf beipflichten …, dann deshalb, weil er unserer Vermutung nach
als Peitsche und Antreiber funktioniert und dazu beiträgt, in uns das Bewusstsein dessen wach zu halten, was
unsere Pflicht ist. Und unter diesem Aspekt ist es uns nicht so wichtig herauszufinden, bis zu welchem Grad das
geflügelte Wort der Wahrheit entspricht. Es für sehr wahr zu halten nutzen wir, um das Unsere dazu
beizutragen, dass es immer weniger wahr wird.
Man könnte die Aufzählung endlos fortsetzen, es gibt keinen Reisenden der Grand Tour
durch Italien, der sich nicht über Neapel ausgelassen hätte, in der Regel negativ. Es gibt
aber auch die eine oder andere zuweilen illustre Ausnahme. Stendhal zum Beispiel nannte
Neapel die «schönste Stadt des Universums». Goethe schrieb über seinen Aufenthalt in
Neapel: «… heute ward geschwelgt und die Zeit mit Anschauung der herrlichsten
Gegenstände zugebracht … Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von
trunkner Selbstvergessenheit. … Wenn man in Rom gern studieren mag, so will man hier
nur leben.»[ 5 ] Der schottische Schriftsteller Norman Douglas hat die Stadt mit einer
antiken, aus den Tiefen des Meeres geborgenen Amphore verglichen. Obwohl überzogen
mit Algen und Kalkverkrustungen, die sie unkenntlich macht, weiß das Auge des Experten
die Schönheit der Originalform sofort zu erkennen.
Wer hat Recht? Wer hat das punctum saliens, den «springenden Punkt» dieser Stadt erfasst,
die man, wie jede komplexe Realität, von vielen sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten
aus betrachten kann? Der zeitgenössische neapolitanische Schriftsteller Raffaele LaCapria
 
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