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Dabei verführen und verderben sie den größten Teil des Volkes, indem sie es in Armut und knechtischer
Kriecherei halten und die eigenen Laster auf es übertragen. Somit fehlt die öffentliche Dienstleistung und der
gemeinnützige Arbeitseinsatz. Feldarbeit, Kriegsdienst und Handwerk werden nur schlecht und mit größtem
Widerwillen von einigen wenigen ausgeübt.[ 3 ]
Die Zeit vergeht, es kommt das 18. Jahrhundert, das der Aufklärung, und der gelehrte
deutsche Philologe Johann Andreas Bühel schreibt in einer Rede über Neapel: «Seine Plebs
ist so blenderisch, vor allem beim Spiel, und gewöhnlich so bösartiger Laune, dass die
Neapolitaner bei den übrigen Völkern Italiens mit gutem Recht als die Schlimmsten der
Schlimmen verschrien sind.» Der Marquis de Sade bezeichnet in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts die Via Toledo als eine der schönsten Straßen, die es gibt, aber: «…
stinkend und dreckig … In was für Händen sie sich befindet, großer Gott! Warum nur
schickt der Himmel solche Schätze Leuten, die so wenig imstande sind, sie zu würdigen?»
Die Dichterin und Journalistin Matilde Serao war, obgleich im griechischen Patras
geboren, durch und durch Neapolitanerin. Mit jeder Faser ihres Herzens nahm die
Gründerin der neapolitanischen Tageszeitung «Il Mattino» an den Angelegenheiten der
Stadt und ihrer Bewohner Anteil, sie erlebte und beschrieb Neapel von innen. Und so sah
sie die Stadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts (unter dem Titel Il ventre di Napoli - Der
Bauch Neapels, 1884):
Verfallende Häuser, Sackgassen, Unterschlupf für jede Art von Schmutz: Alles ist geblieben, wie es ist, so dreckig,
dass es schon ekelhaft ist, ohne dass je ein Straßenfeger dort Ordnung schafft, ohne dass je ein Wachmann dort
vorbeischaut. … Ein beinahe wurmstichiges Gewirr von schwärzlichen Gässchen und Winkeln, in die nie das
Mittagslicht vordringt, in die nie ein Sonnenstrahl hineinfällt. Wo sich seit Jahren der Schlamm auf dem Boden
ansammelt, in jeder Ecke haufenweise Müll liegt, alles dunkel und glitschig ist.
Kurioserweise schildert siebzig Jahre später die Schriftstellerin Anna Maria Ortese in
ihrem Erzählband Il mare non bagna Napoli (etwa: Neapel liegt nicht am Meer, in der dt.
Ausgabe: Neapel Stadt ohne Gnade, 1953) ein mehr oder weniger identisches Bild. Und
zwar durch die Augen ihrer Protagonistin, der kleinen Eugenia, die gerade eine neue Brille
bekommen hat, mit der sie «alles winzig klein» sieht:
Wie ein klebriger Trichter, dieser Hof, mit der Spitze nach dem Himmel, die Mauern von elenden Balkonen wie
von einem Aussatz dicht besetzt; die Bögen an den Erdgeschossen schwarz, aber mit glänzenden Lichtern rings
um die Addolorata; das Pflaster weiß von Seifenwasser, die Kohlblätter, Papierfetzen, Überbleibsel und, mitten
im Hof, diese Gruppe zerlumpter, missgestalteter Menschen, Gesichter, in denen Elend und Ergebung wie
eingenarbt standen.[ 4 ]
 
 
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