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bei seinen Gewerkschaftsauftritten gelernt. Als er endlich die Pritsche erklomm,
hatte er das Volk schon für sich gewonnen. Er plauderte mit Landlosen und In-
dianern, Kleinbauern und Tagelöhnern, seine Energie war unerschöpflich.
»Lula-la« dröhnte der Schlachtruf aus Lautsprechertürmen. Beim Schwatz
mit den Arbeitern war Lula in seinem Element. »Wo ist die Jugend, welche Sor-
gen hat die Jugend? Ihr drückt euch wohl. Ihr seid mir ein paar schöne Ma-
chos.« Grinsend versuchten ein paar Teenager, dem Mikrofon auszuweichen,
das sich hartnäckig in ihre Richtung schob.
»Kommt mit«, rief Lula schließlich in die Menge. »Reiht euch in die Karawa-
ne ein. Fahren wir zu den Landlosen, draußen vor der Stadt.«
Das Einkommen der Tagelöhner, die oft nur von der Holzkohleherstellung
lebten, reichte nicht aus, um sich eine Hütte zu mieten. So hatten sie irgendwo
am Straßenrand ihre Baracken zusammengezimmert. Gelegentlich erschien die
Polizei zur Razzia, aber sie hatten es längst aufgegeben, die Siedler zu vertrei-
ben. Aus dem Provisorium war ein Dauerzustand geworden - der Kern einer
neuen Armensiedlung, wie in Brasilien in jedem Jahr Tausende entstehen.
Zu Ehren Lulas hatten sich die Landlosen feingemacht. Selbst das löchrigste
Hemd war sauber und gebügelt. Ein kleines Mädchen sang eine Hymne auf die
Armen. Lula, von Rührung überwältigt, hielt die kürzeste Rede der Reise. An
dieser Straßenecke fühlte er sich zuhause.
Im Alter von sieben Jahren hatte er selbst mit seiner Mutter den Geburtsort
Garanhuns in Pernambuco verlassen, um im 3000 Kilometer entfernten São
Paulo sein Glück zu machen. Als Dreher begann er im Industrierevier Brasiliens
den Kreuzzug, der ihn in den Präsidentenpalast von Brasília führen sollte.
In Mato Grosso do Sul hatten mehr als 70 Prozent der Wähler vier Jahre zu-
vor noch für Collor gestimmt. Arme wählen niemanden, der ihnen ähnlich sieht
- das war eine der zynischen Weisheiten, auf welche die Elite jahrzehntelang
bauen konnte. Mit einem wie Lula könne man keinen Staat machen. Die Regie-
renden verteufelten ihn als kommunistischen Agitator, ein Wahlsieg der PT wä-
re in ihren Augen damals einer Staatstragödie gleichgekommen.
Aber das Weltbild wankte bereits, als Lula im überfüllten Saal der Farmer-
vereinigung von Campo Grande, der Hauptstadt von Mato Grosso do Sul, über
das Reizthema Landreform sprach. Einige der alten Herren auf dem Podium
hatten 1964 noch das Militär an die Macht gerufen, als ihnen die Sozialrefor-
men der Regierung João Goulart zu weit gingen. Jetzt bewirteten sie Lula.
»Ich bin gekommen, um das Eis zwischen uns zu brechen«, versprach der
Kandidat. Wer seinen Boden bewirtschafte, beruhigte er die Farmer, müsse die
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