Travel Reference
In-Depth Information
Die Frau wich zurück, noch nie hatte ein Politiker sie um ihre Meinung
gefragt. Politiker halten Reden, tragen teure Anzüge und leben in Brasília.
Aber Luís Inácio da Silva, genannt »Lula« entsprach so gar nicht diesem Bild.
Schließlich stieß sie hervor: »Ich wünsche mir, dass der Präsident Mut hat, uns
zuzuhören.«
Lula hörte zu. Er nickte, als sie sich über ihre Entlassung aus dem Staats-
dienst beschwerte; er fragte nach, wie viel sie verdient: »Den Mindestlohn, Lu-
la, es reicht nicht für die Familie.« Nun drängten sich alle um den Politiker: Der
Rentner, dem der Staat seit zwei Jahren keinen einzigen Cruzeiro ausbezahl-
te, weil die Bürokraten seine Anträge verschlampten: »Jetzt muss ich Bohnen
pflücken, um zu überleben.« Ein 93 Jahre alter Mann im Rollstuhl, der zornig
beklagte, »dass Brasilien jeden Tag tiefer ins Elend sinkt, obwohl es Reichtümer
für alle hätte«. Die Feldarbeiterin, die davon träumte, »dass meine Enkel eines
Tages zur Schule gehen können. Ich habe das nicht geschafft.«
Etwa 300 Zuschauer hatten sich auf dem Dorfplatz versammelt. Sie kamen
mit Fahrrädern oder zu Fuß von den Feldern, um den Mann, der Präsident wer-
den wollte, aus der Nähe zu erleben. Skeptische Blicke unter breitkrempigen
Strohhüten musterten den Kandidaten. Mit großspurigen Wahlversprechen
konnte ihnen niemand imponieren. Zu oft wurden sie enttäuscht, verraten, be-
trogen.
Aber eigentlich war dies auch keine Wahlkampftour, sondern eine »Bürger-
karawane«: die dritte von fünf ausgedehnten Reisen des erfahrenen Gewerk-
schafters und Präsidentschaftsanwärters durch die brasilianische Provinz. Lu-
las Pressechef Ricardo Kotscho, der in den 1980er Jahren als Korrespondent
für die legendäre Tageszeitung Jornal do Brasil in Bonn gearbeitet hatte, hatte
mich eingeladen, den Treck für ein paar Tage zu begleiten.
Schnulzensänger Roberto Carlos plärrte aus den Lautsprechern im Bus, Lu-
las Frau Marisa schenkte Schnaps und Diet Coke in Plastikbechern aus. Sie war
die Seele des Trecks, fächelte ihrem ewig schwitzenden Mann frische Luft zu.
Lula hatte die nackten Füße hochgelegt, vor dem Fenster rauschten Sojafelder
und Zuckerrohrplantagen vorbei. Sechs- oder siebenmal bog der Wagen plötz-
lich von der Straße ab und bremste in einer roten Staubwolke. Ausgemergelte
Gestalten mit indianischen Gesichtern hatten sich am Straßenrand versammelt,
die Frauen trugen Babys mit kranken Bäuchen auf dem Arm, viele harrten seit
Stunden in der flirrenden Hitze aus.
Lula kletterte aus dem Bus und schob sich durchs Publikum. Er tätschelte die
Leute, fragte nach ihren Sorgen. Nie ging er direkt auf die Bühne, das hatte er
Search WWH ::




Custom Search