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Landreform nicht fürchten. Am Ende ging er als Punktsieger aus dem Saal.
»Lula ist ein Lichtblick in der politischen Klasse«, resümierte ein Rinderzüch-
ter.
Noch beim Mittagessen in einer Churrascaría, wie die Grillrestaurants in
Brasilien heißen, umarmte Lula die Kellner, die das Fleisch auf seinen Teller
säbelten. Bürgermeister, Großfarmer, Lokalpolitiker drängten sich um seinen
Tisch. Sieh mal, der Typ dort hat fünf Flugzeuge, er ist auf unserer Seite, sagte
Lula triumphierend und deutete auf einen dicken Bauunternehmer. Er rief ihn
zu sich, umarmte ihn, fragte ihn nach seiner Familie. »Wir brauchen mehr Leu-
te wie dich«, sagte er. »Wir müssen den Unternehmern die Angst vor mir neh-
men.«
Das war ihm neun Jahre später immer noch nicht gelungen. Als Umfragen
für die Wahlen im Oktober 2002 einen Sieg Lulas voraussagten, beschleunigte
sich der Verfall des Real, viele reiche Brasilianer schafften ihr Geld ins Ausland.
Dabei hatte Lula sich gewandelt: Im Juni 2002, vier Monate vor den Wahlen,
versicherte er in einem offenen »Brief ans brasilianische Volk«, dass er die
Grundpfeiler einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik, die Cardoso gesetzt
hatte, respektieren würde. Er werde alle finanziellen Verpflichtungen des Staa-
tes erfüllen und alle Verträge respektieren.
Mit diesem Dokument erteilte Lula allen populistischen und marxistischen
Experimenten eine Absage. Für die PT entsprach Lulas »Brief« dem »Godes-
berger Programm« der deutschen Sozialdemokraten: Sie erklärte sich für ver-
antwortungsbewusst und regierungsfähig.
Wer Lula kannte, hatte nie an seiner demokratischen Haltung gezweifelt. Lu-
la ist zutiefst pragmatisch, das hatte er als Gewerkschaftsführer gelernt. Ideolo-
gien liegen ihm fern. Auf die Frage »Sind Sie Marxist?« hielt er eine Standar-
dantwort bereit: »Ich bin Dreher.« Das war keine Koketterie: Lula wollte die Ar-
mut verringern und die Ausgeschlossenen integrieren, aber er ist kein Revolu-
tionär. In São Bernardo do Campo, einem grauen Industrievorort von São Pau-
lo, habe ich mich auf die Spuren dieses Mannes begeben, der Brasilien so stark
verändert hat wie kein anderer Präsident der vergangenen 50 Jahre.
Die Schlagader von São Bernardo ist eine sechsspurige Autobahn, die São
Paulo mit der Hafenstadt Santos verbindet. Rechts der Asphaltpiste erstrecken
sich die Symbole der brasilianischen Industrialisierung: das Stammwerk von
Volkswagen do Brasil, die Schlote von Ford und Mercedes-Benz. Hier schlägt
das industrielle Herz des Landes. Die Metaller von São Bernardo gelten als die
Elite unter Brasiliens Arbeitern. Für einen armen Burschen aus dem Nordos-
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