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Slum abgerissen und der Grund und Boden in einen öffentlichen Park verwan-
delt. Mittlerweile ist das politisch nicht mehr durchzusetzen, zu viele Menschen
wohnen in den Elendsquartieren. Zudem blüht auch in den Favelas die Immo-
bilienspekulation. Also überlässt die Stadt immer mehr öffentliche Flächen den
Besetzern. Die Folge: Rio erstickt nach und nach in einem Meer aus Favelas.
Natürlich ist das nicht die Schuld der Armen, sie machen sich nur die Abwesen-
heit des Staates zunutze. Außerdem vernachlässigt die Stadt seit Jahrzehnten
den sozialen Wohnungsbau, der öffentliche Nahverkehr ist in einem miserablen
Zustand. Die Mieten sind zugleich explodiert, immer mehr Mittelschichtbrasi-
lianer können sich keine reguläre Wohnung leisten und ziehen in die Armen-
viertel.
Selbst die Strände, die früher als unantastbar galten, werden immer öfter
Privatinteressen geopfert - wer Geld und Macht hat, baut sein Haus so, dass
der Zugang zum Strand für die Öffentlichkeit so versteckt ist, dass ihn keiner
findet. Zwar sind Privatstrände in Brasilien verboten, aber die Ordnungsmacht
des Staates endet oft schon vor der Tür des Rathauses.
Bereiche, die nicht dem Privatinteresse unterliegen, gelten oft als Niemands-
land, obwohl sie eigentlich allen gehören. Doch die Idee, dass es Interessens-
sphären gibt, die der Allgemeinheit dienen, ist immer noch unterentwickelt.
Der Moloch São Paulo ist eine tödliche Falle für Fußgänger und Radfahrer,
weil seit Jahrzehnten der Individualverkehr gefördert wird, d. h. die Autofah-
rer. Wer es sich leisten kann, nimmt inzwischen den Hubschrauber, um die ki-
lometerlangen Staus zur Rushhour zu überfliegen.
Privatinteressen und Privilegien beherrschen auch das Verhalten im Stra-
ßenverkehr. Wer ein teures, dickes und schnelles Auto fährt, bedrängt unbe-
kümmert die vielen Kleinwagen und Fußgänger, schließlich ist man wer. Am
stärksten fühlen sich die Busfahrer: Wer sich mit ihnen anlegt, zieht meistens
den Kürzeren. In Rio rasen sie wie Ayrton Senna, überqueren die Ampeln bei
Rot und nehmen mitten auf der Straße Passagiere auf. Über 40 000 Menschen
sterben in Brasilien jedes Jahr bei Verkehrsunfällen.
»Auf der Straße gilt das Recht des Stärkeren«, schreibt der brasilianische
Anthropologe Roberto DaMatta, einer der profundesten Kenner brasilianischer
Lebensart. »Wir leben in dem Wahn, dass es heißt Erfolg zu haben, wenn man
ein Auto besitzt.«
DaMatta führt viele Eigenschaften des brasilianischen Nationalcharakters
auf den Gegensatz zwischen Haus und Straße zurück. Das Heim ist in Brasilien
eine heilige Burg - egal ob Favelahütte oder Millionärsvilla. Nur im Kreise der
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