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Familie fühlt sich der Brasilianer wirklich wohl und beschützt. Im Zentrum sei-
nes Sonnensystems strahlt die Figur der Mutter. Sie würdigt jeden, der zur Fa-
milie gehört, und verzeiht - fast - alles. Ihre Söhne behandelt sie wie kleine Kö-
nige. Die huldigen dafür ihrer Mutter: Sie ist nicht nur die Erzeugerin, sondern
die wahre Herrscherin zuhause.
Das Heim steht nur wirklichen Freunden offen. In Rio kann es Monate dau-
ern, bis man von einem Freund oder einer Freundin nach Hause eingeladen
wird, man trifft sich auf der Straße. Wenn die Einladung erfolgt, gilt das als eine
besondere Ehre: Die Mutter richtet ein Essen aus, das Wohnzimmer wird her-
gerichtet, dem Besucher wird Eintritt in die Familie gewährt - allerdings nur in
die Wohnstube. In alten brasilianischen Wohnungen und Häusern sind Küche
und Schlafzimmer regelrecht versteckt - sie gelten als nicht repräsentabel, die
Küche war früher nur fürs Gesinde bestimmt, das Essen wird im Speisezimmer
aufgetragen. Die deutsche Sitte, Besuchern gleich beim ersten Mal das ganze
Haus zu zeigen, gilt in Brasilien als befremdlich, Wohnküchen sind erst vor we-
nigen Jahren in Mode gekommen.
Sein Heim ist der Ort, wo der Brasilianer sich gehen lässt, da ist er keinen ge-
sellschaftlichen Regeln und Hierarchien unterworfen. »Zuhause haben wir al-
les, wir werden anerkannt und respektiert, zuhause ist eine eigene Welt, wo die
Zeit sich nicht nach der Uhr bemisst«, schreibt Roberto DaMatta.
Die Straße ist die Gegenwelt: Hier ist man niemand, nur Teil einer Masse.
Hier herrschen anonyme Regeln und Gesetze, hier gibt es keine Liebe, sondern
Sex. Die Straße wird von Hierarchien beherrscht, hier wird oben und unten im-
mer neu verhandelt. Hier bekommt der arme Ordnungshüter zu hören: »Weißt
du eigentlich, mit wem du sprichst?«, wenn er es wagt, einem unbekannten An-
zugträger einen Strafzettel auszustellen. DaMatta: »Das Gesetz zu befolgen wird
als Eselei betrachtet; als Anzeichen für Minderwertigkeit.«
Die Straße ist der Dschungel, überall lauern Gefahren, hier herrscht das
Recht des Stärkeren. Natürlich ist sie auch der Ort der Arbeit. Die genießt in
Brasilien längst nicht dieselbe Bedeutung wie in den protestantischen Ländern
des Nordens: Es ist verpönt, nach Feierabend über den Job zu sprechen, Arbeit
nimmt man auch nicht mit nach Hause.
Nur eine Institution bringt Ordnung in das Chaos: das Mittagessen. Der Tag
wird in die Zeit vor dem Mittagessen und nach dem Mittagessen eingeteilt. Eine
der größten Sünden, die ausländische Journalisten in Brasilien begehen kön-
nen, ist es, ihren brasilianischen Mitarbeitern unter irgendeinem Vorwand das
Mittagessen zu verweigern (»Wir machen jetzt einfach durch, dann kannst du
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