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manchmal blies ein kühler Wind vom Hafen herüber, bei Regen spannten sie
eine blaue Plastikplane über den Musikern. Das Dosenbier kaufte man bei Stra-
ßenhändlern, es war eiskalt, Straßenkinder sammelten die leeren Behälter auf,
bei Recyclingfirmen verhökern sie das Aluminium. Einmal im Jahr entrichtete
jeder einen Obolus von 200 Real, damit finanzierten sie den Bloco. Den Rhyth-
mus klopfte man auf der Bierdose mit, manche schüttelten eine mit Sand ge-
füllte Shampooflasche.
Sie nannten sich Escravos de Mauá, die Sklaven von Mauá, weil hier im
Hafenviertel früher die Sklaven angelandet wurden. Hier stand die Wiege des
Sambas, meine Frau kennt selbstverständlich alle Texte auswendig. Ich bin
froh, wenn ich wenigstens den Refrain behalte.
Die Escravos de Mauá waren anfangs in keinem Veranstaltungskalender ver-
zeichnet, die Fans riefen sich gegenseitig an, allenfalls schickte man eine E-
Mail an Freunde. Aber wenn die Escravos riefen, kamen sie alle: Luizinho, der
Caipirinha-Zauberer; Helena, die Walküre aus Copacabana; Jair, der Lebens-
künstler aus Lapa, der selbst Finninnen das Sambatanzen beigebracht hat. Die
Escravos waren ein Jour fixe unter Freunden, eine Sambarunde unter freiem
Himmel. Und sie markierten das Comeback des Straßenkarnevals von Rio.
Früher galt die Hafengegend als No-go-Area. Die Straßen waren verfallen
und schlecht beleuchtet, Prostituierte, Drogendealer und Straßenkinder bevöl-
kerten die Straßenecken, in vielen Fassaden gähnten leere Fensterhöhlen. Mei-
ne Frau ging keine zehn Meter zu Fuss, sie hatte Angst vor Überfällen.
Erst mit den Escravos eroberten die Cariocas das historische Viertel zurück.
Anfangs kamen einige Dutzend, dann Hunderte, schließlich drängten sich an
den Escravos-Freitagen Tausende auf dem Platz. Bis Jahresende, wenn der Kar-
neval naht, schwoll die Menge an. Aber das Ambiente blieb familiär, selbst viele
Taxifahrer hatten nie von dem Sambatreffpunkt am Hafen gehört.
Heute bringen die Escravos im Karneval Hunderttausende auf die Beine. An
den Freitagen ab November ist es auf dem Platz kaum noch auszuhalten. Nur
meine Frau tut weiterhin so, als ob die Escravos noch immer die gemütliche
Sambarunde von damals wären. »Heute abend spielen die Escravos«, zischelte
sie im Verschwörerton, als schon halb Rio von dem Ereignis wusste. Wie groß
ihr kleiner Bloco geworden war, merkte sie erst, als sie kein T-Shirt mehr abbe-
kam.
Während des Karnevals 2013 sind über 200 Blocos durch Rio gezogen. Die
Stadtverwaltung stellte eine strenge Agenda für die Narrentruppen auf: Jeder
Bloco durfte nur zwei Stunden defilieren, die Ersten liefen morgens um sieben.
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