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Das Matriarchat funktioniert in Brasilien perfekt, ansonsten herrscht allge-
meines Beziehungschaos. In vielen Familien hängen die Jungen und die Alten
finanziell von der mittleren Generation ab, die auch »Sandwich-Generation«
genannt wird. Alte Menschen können vom Staat kaum Hilfe erwarten, die Ren-
ten sind kümmerlich. Die 20- bis 30-Jährigen wiederum schaffen es oft nicht,
sich abzunabeln, weil sie nicht genug verdienen oder den Komfort im Eltern-
haus nicht missen möchten.
So wächst in Brasilien eine Generation von Muttersöhnchen heran. Zwei
Drittel aller 20- bis 30-Jährigen und knapp ein Drittel aller 30- bis 34-Jährigen
wohnen noch bei ihren Eltern. Kinder haben sie frühestens mit 30 und selten
mehr als zwei.
»Ich will erst Nachwuchs, wenn meine Freundin und ich uns das finanziell
leisten können«, sagt Lucas Franco, ein junger Mann aus einer Mittelschicht-
familie. Das sei »frühestens in fünf oder sechs Jahren« der Fall, fürchtet sein
Vater Luíz Claudio: »Die Kaufkraft der Mittelschicht ist in den vergangenen 20
Jahren brutal geschrumpft.« Er misst den Niedergang anhand des »Lamas«:
»Mit dem Geld, das ich als junger Mann verdient habe, konnte ich mir täglich
ein Steak im ›Lamas‹ leisten, meiner Stammkneipe. Der Verdienst meiner Söh-
ne reicht nicht einmal für die Pommes frites.«
Lucas' Vater ist Architekt, er gehört einer Generation an, die mit halbwegs
funktionierenden staatlichen Institutionen aufgewachsen ist. Er hat öffentliche
Schulen besucht und auf staatlichen Universitäten studiert. »Damals waren die
Lehrer gut ausgebildet«, erinnert er sich.
Heute schicken nur die Armen ihre Kinder auf öffentliche Schulen. Die meis-
ten Mittelschicht-Eltern bezahlen Privatschulen, weil das öffentliche Bildungs-
system kaputt ist: Staatliche Lehrer verdienen schlecht und sind daher wenig
motiviert, Streiks sind an der Tagesordnung. »Vom Staat können wir absolut
nichts erwarten«, sagt Luiz Claudio. Das gilt auch für den Umgang mit den Se-
nioren: Die demografische Entwicklung wird Brasilien innerhalb von 20 Jahren
in eine Nation von Grauköpfen verwandeln. Vor allem in der Mittelschicht wer-
den immer weniger Kinder geboren, zugleich werden die Menschen immer äl-
ter. Die staatliche Sozialversicherung weist jedoch bereits jetzt ein riesiges De-
fizit auf, sie ist für den Ansturm der Alten nicht gewappnet. Das Gleiche gilt
für die staatliche Krankenversorgung. Überdies herrscht im Land ein Jugend-
kult, die Gesellschaft ist mentalitätsmäßig nicht auf die kommende Überalte-
rung vorbereitet. So bleibt die Pflege der Alten an den Familien hängen.
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