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Am nächsten Morgen rufe ich bei Jorge an. Der druckst herum: Weißt du, es
gibt da ein Problem. Ich bin einen Tag später als geplant von einer Dienstrei-
se zurückgekommen. Jetzt ist Marcela sauer, weil sie glaubt, dass ich in Salva-
dor etwas mit einer Bahianerin angefangen habe. Ist natürlich Quatsch, aber sie
glaubt mir nicht. Sie hält das für einen ganz schlechten Moment, um über unser
Familienleben zu reden. Ich hoffe, du verstehst.
Ich verstehe: Die intakte Mittelschichtfamilie aus Vater, Mutter und zwei
Kindern ist eine aussterbende Lebensform in Brasilien, zumindest in der Alter-
sklasse der 30- bis 50-Jährigen. Normal sind Verhältnisse wie beim »Gatão da
Meia-Idade«, dem typischen Single in der Midlife-Crisis, dessen Erlebnisse täg-
lich in der Zeitung O Globo als Comicserie gedruckt werden.
Gatão ist ein etwa 40-jähriger, gut verdienender Intellektueller mit Pferde-
schwanz und Bierbäuchlein, der nach etwa neun gescheiterten Beziehungen ein
Verhältnis mit einer 17-jährigen Studentin angefangen hat, die kaum älter ist
als seine Tochter aus dritter Ehe. Die träumt unterdessen von einem Trip nach
Miami mit dem neuen Freund ihrer Mutter, die sich gerade in einen Trainer aus
dem Bodybuilding-Studio um die Ecke verschossen hat, nachdem sie zuvor ein
Verhältnis mit einem verheirateten Mann hatte, der ihretwegen seine Familie
verlassen wollte, dann aber doch lieber zu seiner Ex-Geliebten gezogen ist.
Der Typ aus dem Bodybuilding-Studio leidet auch noch unter Trennungs-
schmerz, weshalb die Aussichten für die neue Partnerschaft nicht besonders gut
sind: Er hat sich gerade von einer blonden Psychologin losgeeist, die zwei Söhne
mit ihm hat. Ihre dritte Tochter stammt von ihrem zweiten Ex-Mann, mit dem
sie sich wegen der Alimente streitet. Der will nicht bezahlen, weil er noch den
Unterhalt für seinen Sohn aus erster Ehe abstottert. In Wirklichkeit hat er sich
aber gerade ein neues Auto gekauft, dessen erste Monatsrate jetzt fällig wird.
Alles klar? Die meisten Mittelschicht-Cariocas, wie die Einwohner von Rio
genannt werden, leben in Patchwork-Familien, jedenfalls wenn sie der Genera-
tion der Babyboomer angehören. Ihre wichtigste Orientierungsmarke im Leben
ist die eigene Mutter, die sie wie eine Heilige verehren. Der Muttertag im Mai
ist in Brasilien deshalb wichtiger als Weihnachten.
Mamãe passt auf die Kinder auf, wenn die Tochter mit dem neuen Freund
zum Tête-à-Tête ins Motel will, und sie gewährt Zuflucht, wenn die Ehe des
Sohnemanns gerade mal wieder in Scherben liegt. Am Sonntag versammelt sie
die ganze Bande aus gescheiterten Ehemännern und -frauen, Stiefvätern und
Stiefmüttern, Cousins und Cousinen, Enkeln, Neffen und zugehörigen Freun-
den zum Mittagessen.
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