Travel Reference
In-Depth Information
und den abenteuerlich zusammengeflickten Stromleitungen brasilianischer
Heime. Er unterläuft die Moderne, so gesehen ist er subversiv. Im neuen 1,4
Milliarden Real teuren Stadion in Brasília habe ich schon den ersten Benjamin
entdeckt, im Maracanã in Rio de Janeiro ebenfalls.
»Alles muss anders werden, damit es bleibt wie es ist«, heißt es in Der Leo-
pard von Giuseppe de Lampedusa, dem Sittenbild einer sizilianischen Fürsten-
familie Ende des 19. Jahrhunderts. Der Adel schließt einen Pakt mit dem Bür-
gertum, unter dem Mantel der Moderne sichert er so seine alten Privilegien. Die
neue Herrschaftsschicht der Bürgerlichen lässt sich bereitwillig korrumpieren,
sie entdeckt rasch das süße Leben in einem System aus Gefälligkeiten und Pri-
vilegien. Der Preis, den die Gesellschaft dafür entrichtet, sind politischer Still-
stand und moralischer Verfall - und die Entstehung der Mafia.
Brasilien ist ein gigantisches Sizilien. Unter dem Mantel der Moderne blüht
das alte System des Klientelismus und der Gefälligkeiten. Persönliche Bezie-
hungen zählen mehr als demokratische Regeln. Mafias kontrollieren fast alle
Bereiche des öffentlichen Lebens, von der Polizei bis zur Wassergesellschaft.
Wenn die Bürger gegen das System revoltieren, wie im Juni 2013, reagieren die
Politiker wie seinerzeit der sizilianische Adel: Sie versuchen die Unzufriedenen
zu vereinnahmen und versprechen Reformen, die das System mit einem neuen
Make-up ausstatten.
Wie überlebt nun der einfache Brasilianer in diesem System der Privilegien
und Seilschaften? Es gibt ein Zauberwort, das scheinbar Unmögliches möglich
macht: »Jeito«. Man kann es am ehesten mit »Dreh« oder »Trick« übersetzen,
es beschreibt einen unkonventionellen Weg, ein Problem zu lösen.
Dabei kann es sich zum Beispiel um ein Strafmandat handeln: »Não tem jei-
to?«, fragt der Falschparker den Polizisten, der ihn ertappt hat, »Gibt es keinen
Dreh?« Die Antwort hängt von dem jeweiligen Beamten ab, aber mit der Frage
eröffnet man auf jeden Fall einen Dialog - das ist schon die halbe Miete. Wenn
der Polizist durchblicken lässt, dass ein Jeito möglich ist, geht es nur noch um
die Festlegung des Schmiergeldes. Das wiederum berechnet sich nach dem Aus-
sehen des Autos - von einem Mercedes-Fahrer wird mehr erwartet als vom Be-
sitzer eines klapprigen VW Golf, ein Gringo zahlt mehr als ein Einheimischer.
In Rio geschieht es allerdings immer öfter, dass der Gesetzeshüter antwortet:
»Não tem« - Nein, es gibt kein Jeito. Ist das nun ein Anzeichen, dass Brasiliens
Polizisten ehrlicher geworden sind?
Vor allem bedeutet es, dass Korruption schwieriger geworden ist: Bei Alko-
holkontrollen stehen nicht nur Polizisten am Straßenrand, sondern auch ande-
Search WWH ::




Custom Search