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Horizontal kann sich die Favela nicht mehr ausbreiten: Auf der einen Seite
begrenzt eine Schnellstraße das Gewusel, auf der anderen ragt das wuchtige
Granitmassiv des Zwillingsbergs Dois Irmãos in den Himmel, eine Landmarke
von Rio. Also bauen die Bewohner in die Höhe.
Bis zu elfstöckige Gebäude erheben sich zwischen den Hütten, wer Nach-
wuchs erwartet oder sein Einkommen mit Mieteinnahmen verbessern will,
stockt einfach eine Etage auf. Die Hochbauten überschatten Gassen und Plätz-
chen, jeder freie Quadratmeter wird bebaut. »Favelas wachsen ungeordnet, so
wie europäische Städte im Mittelalter«, sagt Stadtplaner Luiz Carlos Toledo.
Er hat die gesamte Rocinha im Computer. In seinem Büro im Stadtzentrum
entwirft er Plätze, Wege und Häuser für den Slum. Ein eigenes Krankenhaus
soll er bekommen, breite Straßen und großzügige Plazas. Stararchitekt Oscar
Niemeyer hat eine neue Fußgängerbrücke entworfen, die das Elendsviertel mit
dem reichen São Conrado verbindet. In wenigen Jahren soll sich das Gewusel
in ein menschenfreundliches Stadtviertel verwandeln.
Die Urbanisierung der Rocinha kostet rund 300 Millionen Real, etwa 120
Millionen Euro, und wird aus dem Etat des PAC finanziert, dem wohl ehrgei-
zigsten Entwicklungsprojekt Lateinamerikas. Das Kürzel steht für »Programm
zur Beschleunigung des Wachstums« und ist das Lieblingskind von Präsidentin
Dilma Rousseff.
Über 400 Millionen Euro hat die Regierung für die Urbanisierung der Rocin-
ha und zwei weiterer Megaslums in Rio freigestellt. Sie will die als Brutstätten
der Gewalt verfemten Ghettos in die Stadt integrieren. »Wir wollen die Fave-
la durchlässig machen«, sagt Toledo. Dafür muss er Hunderte Hütten abreißen
lassen, die Bewohner werden entschädigt und umgesiedelt.
Ayrton, der Architekt der Stadtverwaltung, ist an dem PAC-Projekt nicht be-
teiligt, obwohl er die Rocinha besser kennt als alle anderen. Aber dieses ist
ein Projekt der Bundesregierung, der Bürgermeister redet nicht mit. Skeptisch
sieht Ayrton den Bauarbeiten zu. Nur hinter vorgehaltener Hand äußert er sei-
ne Zweifel an dem ehrgeizigen Urbanisierungsprojekt.
Der Regierung geht es nicht nur darum, Licht und Luft in die dunklen Gassen
zu bringen. Vor allem will sie die Herrschaft der Drogengangs brechen, die in
vielen Favelas das Sagen haben. Die »Soldaten«, wie das Fußvolk der Kokain-
mafia genannt wird, bewegen sich im Labyrinth der Elendshügel wie Fische im
Wasser. Von den Gipfeln kontrollieren sie die Slums wie einst mittelalterliche
Zwingherren ihre Burgen in Europa.
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