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Genau das hatte José Reinaldo eigentlich geplant: Er hatte einen Überhang
von einem Meter einkalkuliert, um mehr Platz zu gewinnen, so machen das alle
in der Favela. Jetzt blickt er ein wenig enttäuscht. Aber er verspricht, sich an die
Auflagen zu halten. »Wenn du fertig bist, komme ich vorbei und sehe mir den
Umbau an«, kündigt Ayrton an. Er ist die letzte Instanz in den Nachbarschafts-
kriegen, die hier genauso leidenschaftlich ausgefochten werden wie unten auf
dem »Asphalt«.
Der einzige Unterschied: Unten gelten die städtischen Bauvorschriften, in
der Favela ist jeder sein eigener Baumeister. Jeder Quadratmeter wird erbittert
umkämpft, nur das Gesetz der Schwerkraft oder aufgebrachte Nachbarn setzen
der Kreativität Grenzen. Dann muss Ayrton schlichten.
Die Stadtverwaltung hat ihm ein kleines Büro in der Rocinha eingerichtet.
Eigentlich ist die Siedlung illegal und müsste abgerissen werden, aber davor
scheuen die Regierenden zurück. Es fehlt an Wohnraum für die Armen, außer-
dem stellen die Favela-Bewohner ein großes Wählerpotential.
Über 700 Favelas gibt es in Rio; man schätzt, dass etwa zwei Millionen Ein-
wohner in Slums leben. Die illegalen Siedlungen sind auf keinem Stadtplan ver-
zeichnet. Um nicht ganz die Kontrolle zu verlieren, berät die Stadtverwaltung
die Leute beim Bau ihrer Behausungen. So will sie verhindern, dass die Hütten
beim ersten Sturzregen zusammenfallen.
Die meisten Elendsviertel sind in den 1970er und 1980er Jahren entstanden,
als Landarbeiter aus dem armen Nordosten auf der Suche nach Arbeit in die
großen Städte strömten. Ihre Behausungen zimmerten sie aus allem zusam-
men, was sie ergattern konnten: Abfallholz, Pappkartons, Baustellenabsperrun-
gen, verbeulte Wellblechreste.
Wer in der Rocinha wohnt, hat es geschafft: »Verglichen mit anderen Favelas
ist das hier ein Luxus«, schwärmt José Reinaldo. Die Rocinha ist ein lautes, pul-
sierendes Labyrinth aus Tausenden Gassen, Stiegen und Winkeln, eingeklemmt
zwischen Bergen und Meer. Die meisten Häuser sind aus rostroten Ziegeln,
schätzungsweise 120 000 Menschen drängen sich in dem Chaos. Von oben hat
man einen phantastischen Blick auf den Atlantik und die Wohntürme von São
Conrado, das teuerste Wohnviertel der Stadt.
Im Vergleich zu anderen Favelas gilt die Rocinha als entwickelt: Es gibt
Kabelfernsehen, zwei Banken, mehrere Buslinien, Sportstudios mit einem
Schwimmbad und den neuesten Fitnessgeräten aus den USA. Strom leiten
die Einwohner illegal von den Hochspannungsleitungen der Elektrizitätsgesell-
schaft ab, wie Krähennester hängt das Kabelchaos über den Gassen.