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Aber Adel und Königtum - auch
hier herrscht eben der hussitische
Geist - haben die inzwischen weni-
gen dort lebenden Prager nicht im
Sinn, wenn sie liebevoll aus der Ver-
gangenheit der schönsten Straße und
ihres Viertel erzählen. Für sie war die
Nerudova immer voller Leben, auch
zu der Zeit, als noch keine Hotels, Ca-
fés und Geschäfte für Touristen dort
standen, sondern nur die alten Häu-
ser mit schmutzigen Fassaden. Bis
Anfang der 1990er-Jahre wohnten in
der „Nerudovka“ noch keine ausländi-
schen Manager, sondern nur Einhei-
mische, Künstler und Lebenskünst-
ler, die sich am Abend in den Kneipen
trafen und zur Musik der tschechi-
schen Undergroundlegende The Plas-
tic People über Nietzsche, Kafka, Po-
litik und über das Sein oder Nichtsein
philosophierten. Die frühere Spornen-
gasse verdankt ihren heutigen Na-
men dem tschechischen Schriftstel-
ler Jan Neruda (1834-1891), der 14
Jahre lang im Haus „Zu den zwei Son-
nen“ (Nr. 47) wohnte. Wie am Haus,
in dem Neruda wohnte, sind an vielen
anderen noch die historischen Haus-
zeichen erhalten. Im Mittelalter erfüll-
ten sie die Funktion von Hausnum-
mern. So wohnten im Haus „Zu den
drei Geigen“ (Nr. 12) im 17. und 18.
Jh. drei Generationen der berühmten
Geigenbauerfamilie Edlinger.
Zum erhängten Kaffee
(U zavěšenýho kafe)
In der Straße Ùvoz, einer Verlängerung der
Nerudagasse Richtung Strahov-Kloster, tritt
der Besucher durch eine niedrige Tür in ein
originelles Lokal. Dieses „Café“ strahlt eine
noch wirklich tschechische Atmosphäre aus,
nur selten sitzen unter den vielen einheimi-
schen Stammgästen Touristen, die sich
dann über einfache und gute böhmische
Gerichte und ein wohl temperiertes Bier zu
ungewöhnlich niedrigen Preisen freuen. Wer
die rauchgeschwängerte Luft nicht erträgt,
sollte lieber mittags kommen. Im Sommer
gibt es Tische im Innenhof. An diesem Ort
wird die längst verloren geglaubte Kleinseit-
ner Welt wieder lebendig (s. S. 25).
Über das Johannesbergl
in die stille Welt der Kleinseite
Zwischen Nerudova und Vlašská führt -
wenn man von der Karlsbrücke kommt -
linker Hand eine Treppe in das gassenge-
wirr der Kleinseite. Vor Jahrhunderten war
an dieser Stelle nur ein bewaldeter Hang -
von daher die Bezeichnung Johannesbergl,
Jánský vršek. Zu Beginn des 12. Jh. ent-
stand ein deutsches Dorf mit engen Gas-
sen. 1645 wurde das Dorf in die Kleinseite
eingemeindet. Die aufsteigende Vlašská
führt direkt zum laurenziberg, vorbei am
Garten des strahov-Klosters, der frei zu-
gänglich ist. Bergab stößt die Vlašská auf
das 1705 erbaute lobkowitz-palais (Nr.
17), das zu den bedeutendsten Barockpa-
lästen Prags gehört und heute die deutsche
Botschaft beherbergt. Im Spätsommer
1989 wurde das Palais zum Zufluchtsort
von etwa 7000 DDR-Flüchtlingen. Vom
Balkon aus gab Bundesaußenminister
Hans-Dietrich Genscher am 30. September
1989 unter dem Jubel der hier kampieren-
den Menschen bekannt, dass sie in die
BRD ausreisen dürfen.
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