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Montaignes Essay über die Gewohnheiten hält noch weitere, sehr
anregende Denkanstöße bereit; es ist ein wahrlich fantastisches
Sammelsurium an Gewohnheiten, entsprungen aus der reichen
Vorstellungskraft und den Anschauungen des Autors. Was dabei
seiner Fantasie entsprungen ist und was real war, das lässt sich nicht
immer sagen. Für das 16. Jahrhundert erscheint manches als we-
nig realistisch, manches gar als ungeheuerlich. Doch um Wahrheit
oder Lüge ging es dem modern denkenden Montaigne ohnehin
nicht, vielmehr darum, seiner Fantasie keine Grenzen aufzuerle-
gen. Er wollte bereit sein, sich von anderen irritieren zu lassen, und
in Erwägung zu ziehen, dass er seinerseits andere durch seine Ge-
wohnheiten irritieren könnte. Und so berichtet er von Ländern, in
denen es Ehen zwischen Mann und Mann gebe und Frauen ebenso
gut wie ihre Männer in den Krieg zögen. An anderer Stelle von
Ländern, wo man beim Tod von Älteren Freudenfeste veranstalte,
beim Essen die Hände an den Fußsohlen abwischen solle und Fisch
ungekocht äße.
Michel de Montaigne dürfte weder mit der Homo-Ehe noch mit
der Überalterung der Gesellschaft, der urbanen Freude am Sushi-
Essen oder weiblichen Wehrplichtigen vertraut gewesen sein. Seine
Fantasie aber war groß genug, um sich als zutiefst humaner Mensch
vor über 400 Jahren solche und andere Phänomene vorzustellen.
Gott hat einen großen Garten, so sagt man. Und Montaigne schien
dies - wie kaum ein zweiter - zu wissen. Welchen Einluss seine
grenzenlose Bereitschaft, das Leben und die Menschen zu lieben
auf seine Haltung gegenüber dem Reisen gehabt hat, das verdeut-
licht der folgende Absatz für mich auf wunderbare Weise:
»Das Reisen scheint mir eine ersprießliche Betätigung. Der Geist
übt sich ständig in der Beobachtung neuer, ihm unbekannter
Dinge. Ich wüsste (wie ich schon oft gesagt habe) keine bessere
Schule, uns im Leben weiterzubilden, als ihm unausgesetzt die
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