Travel Reference
In-Depth Information
Das Brautpaar ist noch nicht da, aber die Gesellschaft hat schon
gegessen. An einem von drei Rundtischen sitzen die Hochzeitsgäste
noch vor ihren Speiseabfällen, die im Wesentlichen aus abgenagten
Knochenresten bestehen. In der Mitte der Tische türmen sich über-
schüssige Speisen. Als Gast wäre es unhölich alles aufzuessen, was
bei guten Gastgebern ohnehin nicht möglich ist. Die sehen näm-
lich zu, dass sie mehr als genug offerieren, um keiner peinlichen
Nachrede zu verfallen. Wäre es jetzt sehr unangebracht, ein wenig
an den knallroten Garnelen zu knabbern, oder um ein paar Hap-
pen der saftig-grünen Bittermelonenstückchen zu bitten? Ich habe
mittlerweile ebenfalls Hunger, und das Essen sieht richtig gut aus.
Ehe wir uns versehen, sitzen wir an einem der Tische. Ein Groß-
teil der Gäste ist mittlerweile nach draußen verschwunden, und die
Speisereste werden weggeräumt. Wir warten. Worauf, das weiß ich
nicht. »Es wäre unhölich, den Gästen die Speisereste zu geben«,
übersetzt Nathalie kurze Zeit später. Ein Familienmitglied, Ende
dreißig und somit unwesentlich älter als ich, hat sich zu uns ge-
sellt. Er stellt einen Hirseschnaps auf den Tisch, er ist nun unser
Gastgeber. Dann werden Speisen gebracht, eine nach der anderen.
Draußen hat die Familie erneut die mobile Küche angeworfen, alle
Gerichte kommen frisch gekocht. Bald wissen wir nicht mehr wo-
hin mit all dem Essen: Neben Garnelen in Sojasauce gibt es einen
Barsch, eine Gans und Rohrkolben mit Minischrimps. Ein Festes-
sen, wie es in einem Sternelokal nicht köstlicher sein könnte, und
noch dazu typisch Huaiyang! Wir haben ein glückliches Bauern-
haus gefunden, noch dazu ein derart exklusives, das nur für diesen
einen Tag »geöffnet« hat.
Unser Gastgeber ist Wanderarbeiter und nur für kurze Zeit wegen
der Hochzeit von einer weit entfernten Baustelle ins Elternhaus zu-
rückgekehrt. Er erhebt unentwegt das Glas, lacht in meine Rich-
tung und ruft dabei »G
ā
nb
ē
i!«, zum Wohl, oder wörtlich: »Tro-
ckenes Glas!« Ich möchte nicht unhölich sein und erwidere die
