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Dieser Zähigkeit und Widerstandskraft kann man in Australien immer wie-
der begegnen. Meine Freundin Jan war als Tochter eines Milchbauern aufge-
wachsen. Die Arbeit war hart, aber die Familie hatte ein Auskommen. Dann
wurde der Milchmarkt dereguliert. Die beiden mächtigen Supermarktketten,
die in Australien praktisch ein Monopol besitzen, drückten die Preise, die die
Bauern für ihre Milch bekommen konnten. Viele gaben auf.
Meine Freundin Jan, die den kleinen Betrieb übernommen hatte, sah einen
Ausweg. Pferdeliebhaber in Sydney suchten nach guten Weiden und Ställen auf
dem Lande. Touristen wollten das echte Australien erkunden, Kängurus und
Papageien in der Wildnis erleben. Jan machte ihr Hobby zum Geschäft. Jah-
relang ritt sie mit Touristen aus, veranstaltete Ponyferien für Stadtkinder, gab
Reitunterricht auf ihrer kleinen Anlage, die sie selbst mit ihren Kindern gebaut
hatte. Dann erlitt ihr Mann einen Schlaganfall. Jahrelang lag er in einem fast
vegetativen Zustand in einem Pflegeheim in der nächsten Stadt. Jan fuhr stun-
denlang zwischen Heim und Betrieb hin und her. Ihre Familie, ihre Pferde und
ihre Freunde gaben ihr Kraft. Sie ging weiterhin mit ihren Enkelkindern und
jungen Schülern auf Turniere, jagte mit ihrer Fuchsstute auf Campdrafts hinter
bockenden Kälbern her. Dann starb ihr Mann. Eine Woche später erfuhr Jan,
die eine Weile an einem hartnäckigen Husten gelittenen hatte, dass sie inope-
rablen Lungenkrebs hatte. Sie erholte sich vom Schock und arbeitete weiter in
ihrem Betrieb, raste weiter zu Pferde hinter Kälbern her, half beim Ausbau der
Stallungen. »She'll be right, mate«, sagte sie, doch sie war nicht »right«. Die
Chemotherapie bedeutete nur einen Aufschub. Jan wurde immer dünner. Sie
fror selbst in der Sommerhitze, doch sie arbeitete weiter, ritt weiter. Sie lach-
te und fluchte und war mal gut, mal schlecht gelaunt, aber sie gab nicht auf.
Freunde und Familie sorgten diskret dafür, dass Jan nie mehr allein in die Wäl-
der ritt. Eines Morgens fragte sie mich zum ersten Mal, ob ich ihr vor unse-
rem Ausritt in den Sattel helfen könne. Ich stützte sie ab, als sie ihr Bein über
den Sattel schwang und vor Schmerzen zusammenzuckte. »Los geht's«, sagte
sie entschlossen. Wir trabten und galoppierten durch den Wald. Sie war sehr
kurzatmig, doch sie lachte. Dann ritt Jan ihre Stute noch ein wenig auf der Wie-
se. Ich half ihr aus dem Sattel. Sie konnte kaum stehen. Ich erfuhr später, dass
der Krebs ihre Knochen angegriffen hatte. Ihr linkes Schienbein war der Länge
nach gebrochen. An diesem Tag sah ich Jan zum letzten Mal. Am nächsten Tag
versagte ihr Atem. Sie starb ein paar Tage später im Krankenhaus.
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