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egal. Wenn die drei Gestalten hier sogar ein schweres Kreuz den Berg hochtragen, dann
werde ich mich bestimmt nicht wie ein Weichei in den Dreck legen. Dann hefte ich mich
stattdessen direkt an deren Fersen, steige wie Phoenix aus der Kilimandscharo-Asche und
erklimme zusammen mit dem Holzkreuz den Gipfel. Vier Meter kann ich mithalten, dann
pumpt meine Lunge wie nach einem 100-Meter-Sprint und ich muss kurz pausieren. Fünf
weitere Minuten später sind die Kreuzträger samt Holzkreuz hinter der nächsten Kuppe
verschwunden und ich wieder mit Gasper und Wilson allein auf weiter Flur. Im Gegensatz
zu mir sehen die beiden noch ziemlich frisch aus und trotten aufgrund der vielen unfreiwil-
ligen Pausen meinerseits mehr als unmotiviert hinter mir her. Gern würde ich mal einen
Blick in die Gedanken der dunkelbraunen und mit Wolle umhüllten Köpfe werfen. Bestim-
mt herrscht dort neben Langeweile auch die Angst vor, den großen, schweren Deutschen
vom Berg tragen zu müssen. Möglicherweise, nein sogar wahrscheinlich, auch ein Grund,
warum Gasper unbedingt wollte, dass Wilson mitkommt. Nicht primär anlässlich der Torte,
sondern vielmehr wegen meiner fast hundert Kilo Gewicht, die den schmächtigen Gasper
wie eine Ziehharmonika zusammendrücken würden. Aber noch ist es nicht soweit. Noch
bewege ich mich. Nicht schnell, aber immerhin in Bewegung.
Mitten im nicht enden wollenden Aufstieg durch das Lavafeld keimt sofort unbändige
Hoffnung auf, als mir von oben auf der Kuppe, hinter der gerade noch das ramadansche
Kreuz verschwunden ist, einige Bergsteiger entgegenkommen. Fröhlich und im Rausch
der Endorphine kommen sie mit einem Lächeln auf den Lippen auf mich zu. Gezwungen
versuche ich, meine bleiernen Mundwinkel hochzuziehen und quäle mir auch ein Lächeln
ab. Ein Lächeln, das durch die Kälte eher als Kinderschreck an Halloween zu gebrauchen
wäre. Es fallen die typischen aufmunternden Worte: dass „es ja gar nicht mehr so weit ist“
und ich „es eigentlich schon geschafft hätte...“. Dass „es nur noch zehn Minuten sind“ und
und und. Diese sinnlosen Floskeln sind zweifellos alle gut gemeint und bestimmt motiviert
mich das auch auf irgendeine Weise, aber gerade geht mir das Gequatsche nur auf die Ner-
ven. Eine Dame der Abstiegsgruppe meint sogar, dass ich das Licht der Stirnlampe aus-
machen könne, weil es jetzt schon hell ist. Es lag noch nicht mal ein arroganter oder ironis-
cher Unterton in ihrer Stimme. Und rein objektiv hatte sie sogar Recht. Aber trotzdem, für
diesen dummen undvöllig überflüssigen Spruchwürdeich derblöden Schnalle am liebsten
meinen Trekkingstock hinterherwerfen und ihr nachschreien: „Ich krieche hier auf dem let-
zten Zahnfleisch, du Pute! Was schert mich denn da, ob die dämliche Lampe leuchtet!“
Aber diese Mühe und Energie spare ich mir lieber. Und so beschließe ich erst mal die
Komikertruppe links liegen zu lassen und zu testen, was denn an der verlockenden zehn-
Minuten-Gipfelaussage dran ist. Nur zehn Minuten, das muss doch noch möglich sein.
Zehn Minuten bis zum Gipfel. Nur zehn.
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