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mit dem prägnanten Titel „So weit die Füße tragen“ denken muss - in dem sich die Haupt-
figur, das arme Schwein Clemens Forell, unter lebensbedrohlichen Umständen durch die
Weiten Sibiriens kämpft. Also gucken wir mal, wie weit mich meine Füße heute auf dem
Kibo tragen. Dieser leichte Schwindel, der mich die letzten Stunden wie ein Geigenkonzert
eines Fünftklässlers begleitet hat, wird von Minute zu Minute immer stärker, immer auf-
dringlicher. Er ist es auch, der für meinen beinahe Absturz verantwortlich war. Dabei ist
es aber etwas ganz anderes, was mich nun beunruhigt. Etwas, was neu ist. Etwas, womit
mich mein Körper die letzten Tage noch nicht konfrontiert hat: Sehstörungen. Überflüssige
Sehstörungen, die ich nur noch als Heranwachsender in regelmäßiger Unregelmäßigkeit
nach Flatrate-Saufpartys mit Unmengen von gepanschten Mixgetränken kenne. Ein echt
beschissenes Gefühl. Da ich aber ausschließen kann, dass ich heute zu tief ins Glas geguckt
habe, bin ich einfach nur genervt. Schlimm genug, dass ich höllische Kopfschmerzen habe,
es in meinen Ohren rauscht, mein Bauch wehtut, mir schwindlig ist und ich nach Luft ringe
wie ein ertrinkender Fisch an Land. Nein, jetzt verschwimmt dem feinen Herrn auch noch
das bisschen Bild, was er durch seine poplige Stirnlampe sieht. Herzlichen Dank. Dieser
Säuferblick macht mich echt verrückt. Als besoffener Heranwachsender hatte ich wenig-
stens noch die beruhigende Gleichgültigkeit, die mir jetzt hier am Berg völlig verloren
gegangen ist. Also stampfe ich weiter über die gefrorene Lavaasche und versuche irgend-
wie mit der Situation umzugehen. Da Not ja bekanntlich erfinderisch macht, finde ich bald
eine erträgliche Lösung für den Säuferblick. Ich gucke einfach für einige Sekunden ins
Dunkle. Dabei merke ich, wie sich meine Augen spürbar, wenn auch langsam entspannen
und ich danach wieder für wenige Sekunden auf den Weg gucken kann. Zwar laufe ich
jetzt Gefahr bei meinen regelmäßigen Blindflügen umzuknicken, abzurutschen oder gegen
irgendetwas zu laufen, aber irgendwo muss man ja Abstriche machen. Links, rechts, links,
rechts. Es ist kurz vor vier und ich habe Durst.
Immer häufiger kommen mir jetzt Bergsteiger entgegen, die bereits aufgegeben und ihren
Abstieg zum Basislager angetreten haben. Aus deren Gesichtern neben Enttäuschung eben-
falls die Erleichterung spricht. Andere wiederum hocken oder sitzen irgendwo demotiviert
rum, weil sie nicht mehr können oder wollen. Teilweise müssen sie sogar mit Sauerstoff
von ihren Guides wieder aufgepäppelt werden. Aber auch bei mir werden die Pausenin-
tervalle immer kürzer. Habe ich es anfangs noch geschafft eine bis eineinhalb Stunden
durchzuhalten, hänge ich nun schon nach spätestens dreißig Minuten schlapp in den Sei-
len. So wie jetzt auch. Vielleicht hilft es, wenn ich etwas Flüssigkeit aufnehme. Nichts ein-
facher als das. Wozu schleppe ich schließlich drei Liter Wasser mit mir rum. Also sauge
ich am Mundstück meines Trinkschlauches wie ein junges Kalb an der Zitze einer Kuh.
Leider ohne Erfolg. Entweder ist die Milchbar leergesoffen oder die Zitze meines Trink-
systems ist eingefroren. Eine Inspektion mit der Stirnlampe soll Gewissheit bringen. Und
tatsächlich: der außenverlaufende Schlauch meiner Trinkblase ist nur noch ein Eis am
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