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die heitere Lebenskunst der Provence
zelebriert wurde. Den Hafen gewisser-
maßen in die Stadt hinein verlängernd,
verbindet sie schon der Name mit dem
Meer. Canebière, das steht für den
Hanf, der hier einst zu Stricken für die
Segler verarbeitet wurde. Seine große
Zeit erlebte dieser Boulevard im 19. Jh.
als Schlagader einer blühenden Stadt.
Eine solche Canebière existiert nicht
mehr. Der Besucher findet eine Straße
dieses Namens, eine lärmende, ver-
kehrsreiche Stadtschneise, auf der es
keine Flaneure mehr gibt, nur noch
Passanten, keine Straßencafés, nur
noch Schnellimbisse, keine Blumen-
mädchen, aber Pornokinos. Von allen
Sünden Marseillaiser Nachkriegspoli-
tik ist der Verfall der Canebière die
schlimmste. Er raubte der Stadt die
Identifikation, derer sie so dringend
bedurft hätte, und gab ihr statt dessen
Büroräume, Geschäftsflächen, Ein-
kaufszentren. Die Canebière wieder
zu dem zu machen, was sie war, das
ist neuerdings ein Ziel der Politik.
In seinem jetzigen Zustand spiegelt
der Boulevard auch die Zerrissenheit
der Stadt wieder. Er bildet nämlich die
Scheidelinie der Quartiers Nord von
den Quartiers Sud, von Armut und
bürgerlichem Wohlstand. Es ist fast
symbolisch, dass die Kreuzung der Ca-
nebière mit Cours Belsunce auf der ei-
nen und Cours St-Louis auf der ande-
ren Seite den Kilometer Null von Mar-
seille bildet, also den theoretischen
Mittelpunkt der Stadt. An dieser vom
Verkehr umbrandeten Ecke stoßen die
Gegensätze Marseilles jäh aufeinander.
Hier das verkommene, schmutzige, ja
elende Belsunce, verunglimpft und ge-
hasst, dort das in bestem Sinne volks-
tümliche Noailles mit seinen maleri-
schen Gassen und Geschäften.
An der Fortsetzung der Canebière
(Boulevard de la Libération) liegt auf
einem Hügel der imposante Palais
Longchamp. Mit seiner Galerie ioni-
scher Säulen, die zwei symmetrisch
angelegte Flügel verbindet, reiht er
sich in die Gruppe historisierender
Prestigebauten des 19. Jh. ein. Die ei-
gentliche Bestimmung des Bauwerks,
das auch zwei Museen beherbergt, ist
auf Anhieb gar nicht zu erkennen: Es
handelt sich um einen Wasservertei-
ler (Château d'Eau), in dem nach ei-
nem Weg von 84 km durch den Canal
de Marseille das Frischwasser aus der
Durance ankommt. Diese Anlage be-
stand schon, wurde aber im Rahmen
der Stadtverschönerung der Marseil-
laiser Blütezeit sozusagen verkleidet,
indem man den heute zu sehenden
Palais darüber errichtete. Der Archi-
tekt Henri-Jacques Espérandieu kons-
truierte auch die Kathedralen Major
und La Garde. Die mittlere Statue über
dem Wasserfall verkörpert übrigens
die großzügige Durance. Man wird
den Palais und seine Museen nicht
verlassen, ohne den blühenden Park
besucht zu haben - in Marseille mehr
als anderswo seltener Luxus.
Belsunce
Lange Zeit war es das Viertel der
Gestrandeten - heute ist Belsunce -
wie Marseille insgesamt - im Wandel
begriffen. Zwischen dem Alten Hafen
und dem Bahnhof gelegen, begrenzt
 
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