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von der Canebière, dem Cours Bel-
sunce und dem Boulevard Athenes,
war Belsunce der Ort, an dem alle Ein-
wanderer irgendwann vorbeikamen -
und meist blieben: Ein Ghetto der Ar-
men und der Ausländer, für viele ein
lebenslanger Wartesaal im vermeint-
lichen Tor zu Frankreich - Wohnung,
nicht Heimat, Ankunft in der Endstation.
Je nach Blickwinkel erscheint der
Stadtteil heute den einen noch immer
als sozialer Brennpunkt und den an-
deren bereits als bunte Bevölkerungs-
Bouillabaisse. Mit dem gleichnami-
gen Boulevard fängt es schon an: Vor
mehr als 300 Jahren angelegt, um es
dem noblen Aix mit seinem Cours Mi-
rabeau gleichzutun, später nach ei-
nem wohltätigen Bischof benannt, bil-
det der Cours Belsunce heute die
Schwelle zu einem Marseille, das mehr
Afrika und mehr islamischer Kultur-
kreis ist als Frankreich. Nirgendwo
sonst im Land leben so viele Trägerin-
nen des Niqab (islamischer Gesichts-
schleier). Alles ist anders hier, ein paar
Meter hinter der Canebière. Afrikani-
sche Gewänder, arabische Schrift-
zeichen, verfallende Fassaden, der
schwere Duft exotischer Gewürze, das
Fleisch in den Auslagen ist halal, die
Musik klingt nach Fernweh und Sehn-
sucht. Ein Spaziergang über den Place
Jules Guesde Richtung Porte d'Aix of-
fenbart, wie unfranzösisch Marseille
sein kann: Andere Sprachen, andere
Hautfarben, Wäsche wird quer über
die Straße gespannt. Der Lärm ist un-
glaublich. Afrikanische Musik dröhnt
aus billigen Lautsprechern und mischt
sich mit dem unaufhörlichen Hupkon-
zert auf den Straßen. Der maghrebini-
sche Markt an der Porte d'Aix lässt ei-
nen kurz zweifeln, ob man nicht viel-
leicht doch in Algier gelandet ist oder
in einer anderen nordafrikanischen
Stadt. Für die Menschen hier das ganz
normale Leben, für den Besucher aber
von einer verwirrenden Sinnlichkeit,
abstoßend und anziehend zugleich.
Der Wandel ist zum bestimmenden
Thema geworden in Belsunce: Ein um-
fangreiches Stadtsanierungs- und Um-
strukturierungsprogramm mit Unter-
stützung der EU sorgt für teils rigide
und durchaus umstrittene Veränderun-
gen, weil sie u. a. auch zur Verteue-
rung der Mietpreise führen.
Zum Erneuerungsprogramm ge-
hören zum Beispiel Renovierungen
heruntergekommener Wohnungen
oder die Neuschaffung von Gewerbe-
flächen und Kultureinrichtungen. In
Belsunce ist auch ein besonderes EU-
Projekt für die Neubelebung des histo-
rischen Zentrums von Marseille veror-
tet. Die „Cité de la Musique“ ist ein
bemerkenswertes Beispiel für die Ein-
beziehung des Kulturbereichs in ein
Projekt zur städtischen Entwicklung.
Schwerpunkt der Arbeit ist die musika-
lische Bildung von Schülern, Studen-
ten, Geschäftsleuten, Arbeitern und
Einwohnern. Besonderes Augenmerk
gilt aber den am meisten benachteilig-
ten Bewohnern des Stadtviertels: Jun-
ge arbeitslose Zuwanderer sollen
durch Kreativität und künstlerische Bil-
dung neue Perspektiven und Orientie-
rung gewinnen. Auch die größere Auf-
geschlossenheit des Viertels und sei-
ner Bewohner sowie kulturelle und so-
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