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gemessen klappt das Zusammenleben
- oder das Nebeneinanderleben - ei-
nigermaßen geräuschlos.
Was diese Stadt trotz allem noch zu-
sammenhält, ist ihre starke Identität.
Sie wurzelt in jener uralten Tradition
der Weltoffenheit, die mit den Grie-
chen kam und die nicht gehen wird
mit Le Pen.
Immer waren es in Marseille auch
die Symbole, die über alle Grenzen
und Feindschaften hinweg zu einen
vermochten. Etwa der legendäre Fuß-
ballclub Olympique Marseille, l'OM.
Eine ganze Stadt leidet und trium-
phiert im Rhythmus seiner Auftritte,
die Feste sind oder Dramen, doch im-
mer Kämpfe.
Oder die Bonne Mère, die goldene
Madonna auf der Kathedrale, zu der
sie dann alle pilgern, wenn OM wie-
der schwere Zeiten durchlebt. Gehol-
fen hat sie bisher noch immer, ganz
egal, von wem sie darum angefleht
wurde. Christen, Juden oder Moslems
- vor dem Fußball und der Schutzpa-
tronin sind sie alle gleich.
stande brachte - die meisten davon ei-
ne architektonische Bankrotterklärung.
An den Folgen dieser monströsen Ak-
tion wird Marseille noch bis weit ins
21. Jh. laborieren. Allein die Metro und
der Autotunnel unter dem Alten Hafen
lösten tatsächlich Probleme, anstatt
neue zu schaffen.
In den 1970er Jahren schien das ar-
chitektonische Dilemma zumindest
erkannt, wenngleich die Antwort der
Stadtverwaltung unter dem legendä-
ren Bürgermeister Gaston Defferre
mitunter abenteuerlich ausfiel. So
wollte man das verwüstete Zentrum
neu beleben und baute - ein Einkaufs-
zentrum, jenes hinter der Börse an der
Canebière. Bei den Bauarbeiten ent-
deckte man, zur Freude der Historiker,
zum Leidwesen aber der Planer, Teile
des Alten Hafens, deren Existenz
überhaupt nicht bekannt war, und da-
rin auch ein antikes Schiff, das mit
dem Hafen versandet war. Defferre,
dem Arbeitsplätze und Geschäfte
über alles gingen, strebte ernsthaft die
Verlegung der Funde auf das Dach (!)
des zu errichtenden Einkaufszentrums
an. Das ging ihm zwar nicht durch,
wie das Historische Museum beweist,
trotzdem entstand das Centre Com-
mercial ein paar Meter weiter als neu-
es Mitglied in der Phalanx monströser
Betonklötze.
Wenn etwas uneingeschränkt ge-
lang, wie die Neugestaltung des Cours
d'Estienne-d'Orves, so auf Initiative
nicht der Verwaltung, sondern von In-
tellektuellen und Bürgern. Dieses Pro-
jekt war schon die Frucht einer neuen
Philosophie, die mit dem historischen
Von 1945 bis heute - zwischen
Stadtplanung und -verwüstung
Zwischen 1947 und 1953 baute Le
Corbusier seine Cité Radieuse, damals
ein vielbeachtetes Modell neuen Woh-
nens in der Stadt, das aber heute eher
wie ein böses Omen für die danach
einsetzende Verunstaltung ganzer
Stadtteile wirkt. Von 1955 bis weit in
die 1970er Jahre verdingten sich Ar-
chitekten als Handlanger eines einzig-
artigen Bauprogramms, das jährlich
bis zu 10.000 neue Wohnungen zu-
 
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