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bauten, etwa die beiden Kathedralen,
die uns heute nur noch als kitschig
und geschmacklos erscheinen. Es ist
die Ironie der Geschichte, dass für die
Kathedrale Nouvelle-Major ausge-
rechnet ein wirkliches Juwel romani-
scher Kunst zerstört wurde - die Petite
Major.
Die „Haussmannisation“ (in Anleh-
nung an den Pariser Stadtplaner) war
in vollem Gange, klassizistische Protz-
bauten wie der Triumphbogen an der
Porte d'Aix zeugen davon. Der größe-
re Hafen am Viertel La Joliette ent-
stand und nahm 1863 die ersten Öl-
importe entgegen, der Bau der Cor-
niche, der Küstenstraße, wurde voran-
getrieben.
In dieser Zeit, als die ganze Stadt ei-
ne Baustelle gewesen sein muss, bilde-
ten sich auch die heutigen Viertel. So
verließ etwa die Bourgeoisie ihr ange-
stammtes Quartier Belsunce und zog
nach Osten - heute ist Belsunce eines
der ärmsten Viertel der Stadt, aber die
Fassaden lassen den einstigen Glanz
noch erahnen.
Zur wirtschaftlichen Blüte kam poli-
tische Gunst: Napoleon III., ein großer
Freund Marseilles, plante zeitweilig so-
gar die Verlegung der Hauptstadt ans
Mittelmeer. Auf seinen Wunsch ent-
stand der Palais du Pharo, bald darauf
der Palais Longchamp. Die monumen-
tale Börse an der Canebière geriet
zum Symbol des goldenen Zeitalters
schlechthin.
Wer sein Vermögen gemacht hatte,
legte es oft in einem Hôtel particulier
an, diskret nach außen, luxuriös nach
innen. An der Corniche wuchsen
prachtvolle, bisweilen verspielte Villen
aus dem Boden.
Mit Reichtum und Handel änderte
sich das Bild der Stadt im übrigen
Frankreich. Teilweise war Marseille à la
mode - zuerst bei Intellektuellen, die
dem „Vorzimmer zum Orient“ Inspira-
tion abgewannen - teilweise entstand
aber auch das Bild einer zwar bunten,
doch gefährlichen Metropole, die es
mit der südländischen Gelassenheit et-
was übertrieb.
Die Marseillaiser strickten selbst mit
an diesem Klischee und ließen sich
auch gern darstellen als Bonvivants,
freundlich und schlitzohrig, geschwät-
zig und ein wenig faul. In den 1930er
Jahren betrat ein Künstler die Bühne,
der mit diesem Klischee zu Weltruhm
kommen sollte: Marcel Pagnol. Selbst
Sohn eines Lehrers aus dem nahen
Aubagne und ein disziplinierter Arbei-
ter, der in Paris um seine Karriere
kämpfte, stilisierte er in „Marius“ den
Marseillaiser Nichtstuer, den fröhli-
chen, aufbrausenden, großsprecheri-
schen, aber gutherzigen Kartenspieler
in der Bar de la Marine. Selten hat ein
literarisches Klischee derartige Wir-
kung entfaltet. „Marius“ ist in Frank-
reich noch heute der Marseillaiser
schlechthin.
Marseille ist nach Paris die
zweitgrößte Stadt Frankreichs
 
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