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tem, das aus einem fragilen Zusam-
menspiel von Süß- und Salzwasser
lebt. Marode, von Ratten und Kanin-
chen ausgehöhlte Deiche vermögen
die Fluten oft nicht aufzuhalten. Dazu
kommen die Abwässer aus der Rhône
und die Pestizide der Landwirtschaft.
Das dritte Problem der Provence ist
der Zentralismus. Ein Land, dessen
gesamte politische, wirtschaftliche,
kulturelle und intellektuelle Potenz
sich in der Hauptstadt zusammen-
ballt, schiebt naturgemäß alle Risiken
und Gefahren fort von dieser Haupt-
stadt. Das soll nicht heißen, dass die
Provence bewusst mit Zeitbomben
vollgestellt worden wäre, doch die
Dichte etwa der atomaren Anlagen al-
ler Art ist frappierend. Von der Pluto-
nium-Fabrik Marcoule, die die Felder
um Avignon mit Cäsium 137 versorgt,
über die Kernforschungszentrale bei
Manosque bis hin zu den Militäranla-
gen in der Hochprovence (siehe Ex-
kurs dort).
Das hängt eng zusammen mit ei-
nem vierten Problem, der Entvölke-
rung ganzer Landstriche. Natürlich
wird solcherlei Planung als Strukturhil-
fe für unterentwickelte Räume ver-
kauft, und ein wenig stimmt das ja
auch. Doch die bedrückende Erkennt-
nis lautet, dass in diesem dicht besie-
delten Mitteleuropa uraltes Kulturland,
wenn es nicht mehr genug hergibt
zum Leben, augenblicklich ein Reser-
voir wird, in dem sich Technokraten
ausleben dürfen, denen jedes Bewusst-
sein für Natur und Geschichte abgeht.
Ins Plateau d'Albion trieb man, kaum
waren die Schafhirten und Lavendel-
bauern zu Industriearbeitern gewor-
den, 500 m tiefe Schächte in die Erde.
Darin lauerten dann Atomraketen, ge-
nug, um Mitteleuropa in eine atomare
Hölle zu verwandeln.
Umweltzerstörung ist ein schleichen-
der Prozess, so unmerklich, dass die
größte Gefahr in einer Abstumpfung
liegt. Da braucht es dann Symbole, an
denen sich schwelender Unmut fest-
machen kann, sei es um den Preis,
dass der konkrete Fall so schlimm gar
nicht ist. Für die Provence war der
TGV ein solcher Fall, jener französi-
sche Superzug, dessen technische Bril-
lanz gewiss einen Gegenakzent zum
Autowahn gesetzt hat. Wie dem auch
sei, der TGV sollte durch die Weinfel-
der von Châteauneuf-du-Pape fahren.
Dieser Plan, ein Plan aus Paris natür-
lich, markierte so etwas wie die Stun-
de Null der provenzalischen Umwelt-
bewegung. Ökologie avancierte zum
Wahlkampf-Thema, Bürgerinitiativen
und Organisationen gründeten sich,
der Widerstand wuchs auf breiter
Front. Seine Parolen wurden sogleich,
in einem notwendigen Akt optischer
Umweltverschmutzung, ungelenk an
alle in Frage kommenden Betonpfeiler
gesprüht: „Non au TGV!“
Das Beispiel machte Schule: Als sich
die Planer daran machten, den uner-
träglichen Archaismus einer Fährver-
bindung zwischen Marseille und der
Camargue durch eine Brücke zu be-
seitigen, was für die große Verbindung
zwischen Italien und Spanien eine Ab-
kürzung durch die Camargue ge-
bracht hätte, brachte unerbittlicher
Bürgerprotest das Vorhaben zu Fall.
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