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Einen ganz ähnlichen Kampf führten
2009 die Winzer in der Montagne
Sainte-Victoire: Eine neue TGV-Trasse
sollte Nizza an das Hochgeschwindig-
keitsnetz anschließen, und zwar mit-
ten durch die Weinbaugebiete im Tal
des Flüsschens Arc. Vorbei am Natio-
nalheiligtum, dem von Paul Cézanne
immer wieder verewigten Bergmassiv.
Philippe Cézanne, der Urenkel des Ma-
lers, unterstützte von seinem Schwei-
zer Wohnsitz aus die Weinbauern der
„Appelation Sainte-Victoire“ - und
konnte sich dabei auf den berühmten
Urahn berufen. Der hatte festgehalten,
wie schon 1870 der Bau der ersten Ei-
senbahn die Landschaft veränderte.
Allerdings hatte er - Ironie der Ge-
schichte - einige seiner weltberühm-
ten Motive erst aus dem fahrenden
Zug heraus entdeckt. Nun wird die
neue Strecke über Marseille und Tou-
lon geführt, durch die Maures-Ebene.
Auch hier sind Weinbaugebiete be-
troffen, aber der Widerstand war we-
niger gut organisiert. Wenn die
Strecke fertig ist, soll die Fahrtzeit von
Paris nach Nizza nur noch gut dreiein-
halb Stunden betragen. Das macht die
Flugverbindung unattraktiver - und ist
damit immerhin auch nicht schlecht
für die Umwelt.
Der Fall TGV zeigt einiges über die
Eigenart provenzalischer Ökobewe-
gung. Da finden sich Menschen zu-
sammen, die man wohl als Wertkon-
servative bezeichnen würde. Der
Weinbauer, den die zu erwartenden
Vibrationen um die Reife seines Re-
bensaftes fürchten lassen, dieser ge-
wiss nicht sektiererische oder fanati-
sche Weinbauer entdeckt urplötzlich
seine widerständische Ader - und er
protestiert.
Nachdenklich gemacht hat die Pro-
venzalen auch die nicht bloß wirt-
schaftliche Bedeutung des Tourismus:
Der ständige Austausch mit Men-
schen, die weit reisen bis in dieses
Land, in dem sie Ursprünglichkeit und
Naturschönheit suchen. Wertkonser-
vative Umweltschützer, das sind so-
mit auch diejenigen, die alte Höfe in
den Bergen kaufen und Schafe züch-
ten, das sind diejenigen, die in verfal-
lenen Dörfern Ateliers und Töpfereien
einrichten, die in alten Klöstern die
Kräuter des Mittelalters züchten. Das
sind Menschen, die Jean Giono gele-
sen haben, Romane, die sich festkral-
len im Boden dieser Provence, Bücher,
die der Auslöschung der Traditionen
uralte Mythen und Weisheiten der
Bauern entgegenhalten.
Jean Giono starb 1970, zu früh, als
dass er die Renaissance seiner Werte
hätte erleben können. Wer häufig in
die Provence reist, kann den allmähli-
chen Wandel verfolgen. Mehr und
mehr sprechen die Provenzalen vom
„Ursprünglichen“, vom „Reinen“, vom
„Wahren“. Die Traditionen erleben ei-
nen stetigen Aufschwung und damit
auch die Ökologie, und sei es vorder-
gründig nur, weil der Weinbauer ent-
deckt, dass er mit dem Etikett „Bio“
ganz neue Käuferschichten erschließt.
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