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Gegenwärtig versuchen Forscher am Massachusetts Institute of Technology und ander-
swo, einige der Billionen Verbindungswege zwischen Nervenzellen in Säugetiergehirnen
zu kartographieren. Dazu werden hauchdünne Gehirnschnitte mittels ausgeklügelter
Computerprogramme analysiert. Das menschliche Gehirn hat ungefähr 100 Milliarden
Nervenzellen. Dazu Sebastian Seung, der Leiter des MIT -Teams: »Wir nehmen an, dass
ein Neuron der Großhirnrinde mit 10000 anderen verbunden ist.« Es ist ein ungeheuer
ehrgeiziges Vorhaben, doch ob es die Erinnerungsspeicherung aufklären kann, ist mehr
als fraglich. Zunächst einmal muss ein Mensch, von dem Gehirnschnitte gewonnen wer-
den, tot sein, also kann man durch Lernprozesse indizierte Veränderungen so nicht un-
tersuchen. Zweitens bestehen zwischen den Gehirnen verschiedener Menschen große
Unterschiede; wir haben nicht alle das gleiche »Schaltschema«.
Das gilt auch für kleine Tiere wie zum Beispiel Mäuse. Bei einem Pilotprojekt des Max-
Planck-Instituts hat man sich die Vernetzungsdiagramme von gerade einmal fünfzehn
Neuronen, die für zwei kleine Muskeln in Mäuseohren zuständig sind, angesehen. So
groß der technische Aufwand auch war, ein einheitliches Vernetzungsdiagramm zeich-
nete sich dabei nicht ab. Selbst bei ein und demselben Tier erwiesen sich die Vernet-
zungsdiagramme des linken und des rechten Ohrs als unterschiedlich. [349]
Zu besonders gravierenden Abweichungen vom normalen Bau eines Gehirns kommt
es bei Menschen, die an Hydrocephalus leiden, volkstümlich Wasserkopf genannt. Bei
dieser Krankheit ist die Schädelhöhle mehr oder weniger stark mit zerebrospinaler
Flüssigkeit oder Liquor angefüllt. Der britische Neurologe John Lorber stellte fest,
dass Menschen mit sehr stark ausgeprägtem Wasserkopf mitunter erstaunlich normal
sind, was ihn zu dieser provokanten Frage veranlasste: »Brauchen wir wirklich ein
Gehirn?« Er untersuchte die Gehirne von über sechshundert Hydrocephaluskranken
und fand in etwa sechzig Fällen, dass die Schädelhöhle zu mehr als 95 Prozent mit
Liquor angefüllt war. Manche dieser Menschen litten an ernsten Behinderungen und
Entwicklungsstörungen, doch andere waren mehr oder weniger normal, und bei einigen
lag der Intelligenzquotient deutlich über 100. Ein junger Mann, Absolvent der Sheffield
University mit einem erstklassigen Abschluss in Mathematik, hatte einen IQ von 126,
aber »praktisch kein Gehirn«. Bei ihm war die Schädelhöhle mit einer etwa einen Mil-
limeter dicken Schicht von Gehirnzellen ausgekleidet und ansonsten mit Flüssigkeit ge-
füllt. [350] Jeder Versuch, sein Gehirn mit gängigen Mitteln wie etwa Vernetzungsdia-
grammen zu erfassen, wäre zum Scheitern verurteilt. Die geistigen Funktionen und die
Gedächtnisleistung waren bei ihm mehr oder weniger normal, und das mit einem Gehirn,
das nur fünf Prozent der Normalgröße besitzt.
Die bisherigen Forschungen lassen erkennen, dass Gedächtnis nicht anhand lokaler
Veränderungen an Synapsen zu erklären ist. Gehirntätigkeit besteht nicht aus simplen
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