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Das »Problem der fehlenden Erblichkeit«
Nach dem Abschluss des Humangenomprojekts schlug die Stimmung um. Die optim-
istische Hoffnung, wir würden das Leben verstehen, sobald die Molekularbiologen Klar-
heit über die »Programme« eines Organismus haben, wich jetzt der Erkenntnis, dass
zwischen einer Gensequenz und einem tatsächlichen Menschen doch noch ein gewaltiger
Unterschied liegt. Der praktische Aussagewert des menschlichen Genoms erwies sich als
recht gering, so gering in einigen Fällen, dass mit einem normalen Maßband mehr Erken-
ntnis zu gewinnen war. Große Eltern haben eher große Kinder, kleine eher kleine. Wenn
man die Körpergröße der Eltern misst, kann man mit achtzig- bis neunzigprozentiger
Sicherheit voraussagen, wie groß die Kinder sein werden. Anders gesagt, Körpergröße
ist zu 80 bis 90 Prozent erblich. Bei Vergleichen der Genome von 30000 Menschen wur-
den etwa fünfzig Gene identifiziert, die etwas mit Körpergröße zu tun haben. Das für alle
Überraschende: Alle diese Gene zusammen erklären die Vererbung der Körpergröße nur
zu fünf Prozent. 75 bis 85 Prozent der Erblichkeit der Körpergröße waren nicht durch
die »Körpergrößen-Gene« bedingt. Der größte Teil dieser Erbanlage blieb also im Ver-
borgenen. Es sind inzwischen viele andere Beispiele für »fehlende Erblichkeit« bekannt,
und davon sind auch die sogenannten Erbkrankheiten betroffen. Der Wert der »persön-
lichen Genomik« ist damit sehr fragwürdig geworden. Seit 2008 trägt dieses Phänomen
in der Fachliteratur den Namen »Problem der fehlenden Erblichkeit«.
2009 veröffentlichten siebenundzwanzig namhafte Genetiker, darunter auch Francis
Collins, der Leiter des Humangenomprojekts, in der Zeitschrift Nature einen Artikel über
die fehlende Erblichkeit bei komplexen Krankheiten. Darin räumen sie ein, dass die Gen-
etik auch nach siebenhundert veröffentlichten Genomscans und trotz geschätzter Aus-
gaben von 100 Milliarden Dollar nur eine sehr magere Ausbeute an genetischen Hin-
tergründen von Krankheiten bei Menschen vorweisen kann. [297] 2010 wurde mit einer
Artikelserie in Nature der zehnte Jahrestag der ersten Auflistung des menschlichen
Genoms gefeiert, und ein wiederkehrendes Thema war das »Missverhältnis« zwischen
dem für die Datenerhebung betriebenen Aufwand und dem Erkenntnisgewinn. An einer
Stelle hieß es: »Noch nie war die Lücke zwischen der Informationsmenge und unserem
Vermögen, sie zu interpretieren, so groß wie in diesem Fall.« [298]
Ein Jahr später, am zehnten Jahrestag der Veröffentlichung des menschlichen Genoms,
war der Tonfall eher noch zurückhaltender: »Zwar hat die Genomik bereits in einigen
wenigen Fällen Verbesserungen für Diagnostik und Behandlung erbracht, aber durch-
greifende
medizinische
Verbesserungen
werden
noch viele
Jahre auf sich warten
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