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Augenblicke der Erfahrung
Der führende panpsychistische Denker der englischsprachigen Welt war Alfred North
Whitehead, der zunächst Mathematiker am Trinity College in Cambridge und dort Ber-
trand Russells Lehrer war. Gemeinsam verfassten sie die Principia Mathematica
(1910-13), eines der wichtigsten Werke der mathematischen Philosophie des zwan-
zigsten Jahrhunderts. Whitehead entwickelte danach eine Relativitätstheorie, die an-
nähernd dieselben Voraussagen machte wie Einsteins Theorie und mit den gleichen Ex-
perimenten bestätigt wurde.
Vermutlich war Whitehead der erste Philosoph, dem die radikalen Schlussfolgerungen
aus der Quantentheorie aufgingen. Er erkannte, dass die Wellentheorie der Materie mit
der alten Vorstellung aufräumte, materielle Körper seien wesenhaft räumlicher Natur,
die zwar in der Zeit existierten, aber keine Zeit in sich hatten. Gemäß der Quanten-
physik ist jedes Grundelement der Materie »ein geordnetes System strömender Sch-
wingungsenergie«. [242] Eine Welle ist keine Augenblickserscheinung, sie existiert in der
Zeit, sie verbindet Vergangenheit und Zukunft. Für Whitehead bestand die physikalische
Welt nicht aus materiellen Objekten, sondern aus Ereignissen . Ein Ereignis ist ein Ges-
chehen oder ein Werden. Es trägt Zeit in sich. Es ist ein Prozess und kein Ding. »Ein
sich selbst realisierendes Ereignis«, sagte Whitehead, »lässt ein Muster erkennen.« Das
Muster »setzt Dauer voraus, in der wirklich Zeit verstreicht; es kann sich nicht um einen
ausdehnungslosen Augenblick handeln«. [243]
Wie Whitehead aufzeigte, lief die Physik selbst auf eine Schlussfolgerung zu, die
Bergson bereits gezogen hatte. Zeitlose Materie gibt es nicht. Alle physikalischen Ob-
jekte sind Prozesse, die Zeit in sich tragen, eine innere Dauer. Die Quantenphysik macht
klar, dass alle Ereignisse Schwingungscharakter haben und deshalb Zeit in Anspruch
nehmen - eine Schwingung kann nicht in einem Augenblick ohne Dauer stattfinden. Die
Grundeinheiten der Natur, etwa Photonen und Elektronen, sind ebenso zeitlich wie räum-
lich. »Augenblicks-Natur« gibt es nicht. [244]
Das besonders Verblüffende und Originelle an Whiteheads Theorie bestand in seiner
neuen Sicht der Beziehung zwischen Geist und Körper als Beziehung in der Zeit . Nor-
malerweise wird diese Beziehung eher als räumlich gesehen: Der Geist ist im Körper,
und die stoffliche Welt ist draußen. Der Geist sieht die Dinge von innen, er besitzt ein
Innenleben. Selbst aus materialistischer Sicht ist der Geist »innen«, nämlich im Gehirn,
eingeschlossen von der Dunkelheit des Schädels. Der übrige Körper und die gesamte
Umwelt sind »draußen«.
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