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Für Whitehead jedoch hängen Geist und Materie als Phasen eines Prozesses zusam-
men. Die Zeit und nicht der Raum ist das Kernelement ihrer Beziehung. Die Wirklichkeit
besteht aus Augenblicken in ihrem Verlauf, und ein Augenblick teilt sich dem nächsten
mit. Um Augenblicke unterscheiden zu können, muss ein Wahrnehmender vorhanden
sein, der den Unterschied zwischen diesem Augenblick und dem vorigen und dem näch-
sten empfinden kann. Alles Aktuelle ist ein Augenblick der Erfahrung. Wenn er verklingt
und ein vergangener Augenblick wird, tritt ein neuer Jetzt-Augenblick an seine Stelle, ein
neues Subjekt der Erfahrung. Der eben vergangene Augenblick wird ein in der Vergan-
genheit liegendes Objekt für ein neues Subjekt - aber auch für andere Subjekte. White-
head fasste das sehr knapp zusammen in dem Satz: »Eben Subjekt, jetzt Objekt.« [245]
Erfahrung ist immer »jetzt«, und Materie ist immer »vorbei«. Mit der Gegenwart ver-
bunden ist die Vergangenheit wie in der herkömmlichen Physik durch Kausalität, die Ge-
genwart mit der Vergangenheit jedoch durch das Fühlen oder, wie Whitehead es nennt,
durch prehension , was so viel wie Erfassen oder Begreifen bedeutet.
Nach Whiteheads Auffassung ist jedes aktuelle Geschehen zweifach bedingt: durch in
der Vergangenheit liegende physikalische Ursachen und durch das selbstschöpferische,
sich selbst erneuernde Subjekt, das seine eigene Vergangenheit auswählt und auch unter
möglichen Zukunftsversionen eine Wahl trifft. Durch seine »Erfassungen« (prehensions)
bestimmt es, was es aus der Vergangenheit in seine Gegenwart herüberholt, und es wählt
auch unter den Möglichkeiten, die seine Zukunft bestimmen. Mit seiner Vergangenheit
ist das Subjekt durch ein selektierendes Gedächtnis verbunden, mit seiner potenziellen
Zukunft durch seine Wahl-Akte. Selbst die allerkleinsten Prozesse, etwa Quantenereign-
isse, sind physikalischer und geistiger Natur und von zeitlicher Ausrichtung. Physikalis-
che Kausalität geht von der Vergangenheit in die Zukunft, während sich geistiges Ges-
chehen in die andere Richtung bewegt, nämlich einerseits durch »Erfassungen« von der
Gegenwart in die Vergangenheit, aber auch von potenziellen Zukunftsvarianten in die
Gegenwart. Es besteht demnach zwischen dem geistigen und dem physikalischen Pol
eines Ereignisses eine Zeit-Polarität: physikalische Kausalität von der Vergangenheit zur
Gegenwart und mentale Kausalität von der Gegenwart zur Vergangenheit.
Whitehead behauptete nicht, Atome seien bewusst wie wir, aber er sprach ihnen Ge-
fühle und Erfahrung zu. Gefühle, Regungen und Erfahrungen sind grundlegender als das
menschliche Bewusstsein, und jedes geistige Ereignis ist durch materielle Ereignisse be-
dingt, die ihrerseits aus vergangener Erfahrung bestehen. Erkenntnis ist nur möglich,
weil die Vergangenheit in die Gegenwart einströmt und sie gestaltet, während das Sub-
jekt zugleich unter den Möglichkeiten wählt, die seine Zukunft bestimmen. [246]
Whiteheads Philosophie wird von vielen als sehr schwer verständlich empfunden, vor
allem in seinem Hauptwerk Process and Reality von 1929 (Prozess und Realität) , doch
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