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Atami, 1995
Das erste Mal hatte ich diese Laute ziemlich genau vierzehn Jahre vorher gehört - von demselben Kenji.
Ich war 1995 mit dem Rucksack durch Japan gereist und blieb die erste Woche bei einer Gastfamilie, die
mir Verwandte vermittelt hatten. Damals hatte ich die Laute des Erstaunens bei jüngeren Japanern noch
für ein reines Zeichen von Blödheit gehalten und ihren praktischen Wert nicht erkannt. Mir war außerdem
nicht klar, dass ich umgekehrt als Ausländer erst einmal viele große Laute des Erstaunens hätte machen
sollen, statt den Japanern etwas über Deutschland und über Japan zu erzählen.
In den Monaten davor hatte ich »Langenscheidts Praktisches Lehrbuch Japanisch« durchgearbeitet, aber
das reichte noch längst nicht für echte Konversation. Die Verständigung lief damals noch in lückenhaftem
Englisch ab.
Ich saß mit Kenji, dem Sohn der Familie Matsubara, am Küchentisch. Da kannte ich ihn gerade mal seit
zwei Tagen. Er war ein Jahr jünger als ich. Die Gastmutter, Matsubara-san, hatte große blaue Weintrauben
auf den Tisch gestellt.
Ich nahm mir eine Traube und aß sie. Kenji starrte mich fasziniert an. Dann rief er plötzlich: »Hey,
Mama, komm mal her, guck mal!«, und zu mir gewandt: »Iss noch mal eine!«
Ich runzelte die Stirn und sah ihn an. Inzwischen war die Mutter dazugetreten. »Was soll das, Kenji?«
»Iss!«, fordert mich Kenji auf.
Zögernd steckte ich eine Traube in den Mund und aß sie. Kenji guckte fasziniert. Die Mutter zog eine
AugenbrauehochundschaltdannihrenSohn:»Nun,dasistzwarbemerkenswert,abersoaußergewöhnlich
ist es nun auch wieder nicht. Andere Länder, andere Sitten. Wir müssen da tolerant sein.« Sie ging zu ihrer
Hausarbeit zurück. »Kenji? Was ist seltsam an meiner Art, Trauben zu essen?«
»Du isst die Schale mit.«
NebendieTraubenhattedieMuttereinenkleinenTelleraufdenTischgestellt.KenjihatteseineTrauben
ausgezutzelt und die Schalen auf das Tellerchen gelegt. Er glättete sie sogar und faltete sie ordentlich zu
einem Dreieck, bevor er sie auf dem Abfallteller auffächerte. Erst später verstand ich, dass sich das so ge-
hört. Andere Japaner machen das auch so.
»Ihr esst die Trauben ohne Schale?«
»Ja, klar. Wir essen auch die Schalen von Mangos, Kiwis oder Melonen nicht.«
»Aber die Schalen dieser Früchte kann man gar nicht essen.«
Jetzt kamen sie zum ersten Mal, die Geräusche des Erstaunens. »Hnnnnnnn«, langgezogen, etwas in
die Höhe gehend. Er wollte damit wohl sagen: »Die von Trauben auch nicht!«, oder »Wenn man schon
Traubenschalen essen kann, bin ich mir wegen der Mangos auch nicht mehr so sicher«, aber sagte es erst
mal nicht. Schlagfertigkeit gehört in Japan nicht zum guten Ton. Sie wirkt nicht harmonisch.
»In der Schale von Trauben sind doch die meisten Vitamine und der meiste Geschmack«, sagte ich. »Ihr
werft ja das Beste an der Frucht weg«, belehrte ich Japan.
Kenji machte erneut langgezogene Laute des Erstaunens. Einfach zu widersprechen, das wäre zu direkt.
Doch dann sagte er mit ganz harmlosem Blick: »Ich glaube, Trauben sind in Japan außen mit irgendwas
behandelt, das nicht so gut für den Körper ist.«
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