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Kenji stieg die Treppe hinauf. Er hatte Anzughose und Hemd an, wie ich. Jacketts sparen sich die
meisten Arbeitnehmer im Hochsommer.
»Wie wäre es mit der Izakaya mit Gerichten aus Yamanashi?«, schlug Kenji vor. Eine Izakaya ist eine
Kneipe im japanischen Stil. Die Präfektur Yamanashi grenzt an Tokio - das verhält sich also etwa so, als
böte ein Laden in Berlin Spezialitäten aus Brandenburg an.
Wir waren schon öfter da gewesen. Es bedienten eine ältliche Wirtin, ihre Tochter und ihre Enkelin. Die
MännerderFamiliekochten:derältlicheWirt,seinSchwiegersohnundeinJunge.IchhieltihnfürdenFre-
und der Enkelin. Die mittlere der drei Frauen brachte uns dampfend heiße Tücher, um Hände und Gesicht
zu erfrischen. Kenji und ich tranken Bier, Akiko einen Oolong-Hi, eine Mischung aus halbfermentiertem
Tee und Reisbranntwein auf Eiswürfeln.
»Wir machen jetzt immer besonders viele Überstunden, weil in der Wirtschaftskrise die Aufträge
weggebrochen sind«, erzählte Kenji von seinem Arbeitstag.
Ich machte Laute des Erstaunens.
»Esgibtzwarwenigerzutun,aberunserAbteilungsleiterhältgrößereAnstrengungenfüreinAllheilmit-
tel gegen die Krise«, fuhr Kenji fort.
»Was macht ihr in der ganzen Zeit?«
»Wir tun so, als seien wir schrecklich beschäftigt, bis der Chef spätabends endlich geht. Ich lasse die
jüngeren Kollegen Akten digitalisieren, die schon ewig herumstehen.«
»Wir haben auch weniger Aufträge, aber dafür gehen wir jetzt schon am frühen Nachmittag nach
Hause, wenn nichts anliegt«, sagte Akiko. Sie arbeitete bei einem deutschen Unternehmen. Ihr Chef lehnte
sinnlose Überstunden ab.
Auch ich erzählte von meinem Abend. »Ich war Diensttrinken mit einem Haufen alter Knacker aus der
Industrie,diemirSazae-Schnecken verbietenwollten.Angeblich,weilAusländerdasnichtessenkönnen.«
Akiko machte amüsierte Laute des Erstaunens.
Während derzweiten RundevergaßenwirdenBerufundredeten stattdessen überdieBreite derNudeln,
die vor uns in der Suppe schwammen. Das sind typisch japanische Gesprächsthemen - simpel und konkret
wie die Sommerhitze oder die neue Frisur eines Ansagers im Fernsehen. Jetzt waren es die Nudeln.
»Diese Hôtô sind noch breiter, als Hôtô sonst schon immer sind«, behauptete Kenji. Er hatte die
Nudelsuppe bestellt, weil er noch nicht zu Abend gegessen hatte. Außerdem trinkt in Japan keiner was,
ohne auch zu essen.
»Also, mir kommen diese Hôtô ziemlich normal vor«, fand Akiko, ließ eine Nudelprobe über ihrer
Schale von den Stäbchen herunterhängen und beäugte sie vor dem Einschlürfen. Japaner saugen Nudeln
direkt aus der Schale in den Magen.
Kenji und ich blickten unsere Nudeln ebenfalls an und machten Laute des Zuhörens, die denen des Er-
staunens ganz ähnlich sind, aber am Ende nicht in die Höhe gehen.
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