Travel Reference
In-Depth Information
Euro. Kanno-san warnte zu Beginn, dass die Behandlung gefährlich sein kann und ich mich sofort melden
soll, wenn etwas weh tue. Mein linkes Ohr ging noch. Dann, im rechten Ohr, die Verhärtung. Kanno-san
machte Laute des Erstaunens, so etwas sah sie nicht oft. Japanische Eltern kratzen die Ohren ihrer Kinder
mit einem Löffelchen aus, und auch die Erwachsenen machen stochernde Gehörganghygiene. In Japan gilt
das als normal, gesund und notwendig.
Aber auch der ausländische Härtefall stellte Frau Kanno nicht vor ein echtes Problem, Ohrpflegerin ist
in Japan ein Ausbildungsberuf. Ihre Empfehlung für die Zukunft: wie die anderen Kunden zweimal mon-
atlich vorbeikommen. Dank Punktekarte gab es nach zwanzig Behandlungen eine gratis. Seitdem komme
ich öfter. Nach der ersten Reinigung hörte ich plötzlich besser.
Japaner, so heißt es, seien die Preußen Ostasiens.
Ich muss gestehen, ich bezweifle, dass sich alle Preußen gleich verhalten oder verhalten haben. Wenn
mit dem Vergleich gemeint ist, dass Japaner nach Möglichkeit pünktlich eintreffen, sich tendenziell an Re-
geln halten und ihre Aufgaben mehrheitlich diszipliniert erledigen, dann ist da sicherlich etwas dran. Ein
deutscher Firmenchef in Japan sagte mir, dass er noch nie so regeltreue Mitarbeiter erlebt habe wie nach
seinem Amtsantritt in Kawasaki.
DochübereinengroßenUnterschiedzwischenihrereigenenundderjapanischenArbeitsauffassungsind
sich alle Deutschen im Lande einig. Japaner opfern sich gern zwecklos auf und geben sich gern sinnlos
Mühe.SielegensicherstdannsorichtiginsZeug,wennnichtdiegeringsteAussichtaufeinangemessenes
Ergebnis besteht.
DurchihresobesondersaktiverechteGehirnhälftebesitzendieJapanerdieFähigkeit,dieSichtweisedes
anderen einzubeziehen. Auch als Chefs oder Lehrer honorieren sie sinnlose Anstrengung. Sie sehen auch
hier eben eher das große Ganze statt des konkreten Resultats. Der Blick gilt nicht nur dem Endergebnis,
sondern auch dem Weg dahin. Es ist wie im Matheunterricht in der Schule: Auch für den Rechenweg gibt
es noch Punkte.
Kenji war eines frühen Morgens bei einem Geschäftstermin zur falschen Zweigstelle eines Kunden
gefahren. Sein Abteilungsleiter absolvierte den Termin alleine, obwohl Kenji eigentlich der Fachmann
gewesen wäre. »Er war mir aber gar nicht so böse, wie ich gedacht hatte«, erzählte Kenji. »Denn ich war
extraumfünfUhrmorgensaufgestanden,umrechtzeitigdortzusein,undhattemirrichtigMühegegeben.«
AuchdieAufnahmeprüfungenfürjapanischeUnisspiegelndaswider.SiefragenUnmengenvonWissen
ab, das für nichts gut ist. Wer studieren will, muss mit 19 Jahren wissen, dass das Jahr Juei 4 des tradition-
ellen Kalenders 1185 im westlichen Kalender entspricht und den Beginn der Kamakura-Zeit markiert. Im
Fremdsprachenteil hacktderTestbeispielsweise endlosaufsinnverwandtenWörternherum-diekünftigen
Studenten müssen den Unterschied zwischen »Umbrella« und »Parasol« kennen, obwohl die meisten von
ihnen sich mit ganz grundlegendem Englisch noch ziemlich schwertun. Auf die Uni kommt nur, wer sich
Mühe gibt, ohne nach dem Sinn zu fragen.
Diese Mühe geben sich Japaner auch mit dem Müll. Die Japaner sprechen vermutlich als einziges Volk
neben den Deutschen von »Wertstoffen«, und sie behandeln diese kostbare Substanz entsprechend pfleg-
lich. Wichtiger als die Liebe zur Umwelt ist dabei jedoch der soziale Druck. Was sollen die Nachbarn den-
ken, wenn das Altpapier einfach so herumsteht? Manche japanische Hausfrau bügelt ihre alten Zeitungen,
um sie schöner zusammenbinden zu können.
Search WWH ::




Custom Search