Travel Reference
In-Depth Information
nach meinem Blick hinter die Fassade desillusioniert. Das Land lässt die wirtschaftlich wenig nützlichen
Menschen gnadenlos fallen.
Eine Kategorie schlechter als die Gästehäuser sind Internetcafés, die in Japan als Ersatzhotels auch Liegen
und die Benutzung einer Dusche anbieten. Als Reporter machte ich den Selbstversuch und blieb einige
Nächte in einem Internetcafé in Ueno. Die Aushilfskräfte an der Theke müssen mich für den letzten Ab-
schaum gehalten haben, Ausländer und bettelarm. Die Übernachtung kostete 3000 Yen für fünf Stunden,
Duschen 500 Yen extra. Ich bekam jedes Mal eine andere Kabine, die Ausstattung war aber immer gleich:
drei Quadratmeter, Computer, schwarzer Sessel, dessen Lehne sich elektrisch zurückfahren ließ, Woll-
decke. Grundsätzlich wirkte alles ordentlich, selbst die Decke war weich. Aber waschen sie die auch mal?
Als ich in der ersten Nacht kurz nach Mitternacht eingecheckt hatte, fiel mir auf, wie dünn die Wände
sind. Von der einen Seite hörte ich deutlich das Geklapper der Tastatur, auf der anderen Seite schnarchte
schon einer. Das Internet brauchte ich nicht, also legte ich mich gleich hin. Auf der Seite liegend kollidier-
ten Hüfte und Schultern mit Biegungen in der Liegefläche. Auf dem Rücken liegend rutschte ich jedoch
irgendwie auf dem glatten Material nach vorne. Der Laden war eigentlich als Internetcafé gedacht oder
musste zumindest den Schein aufrechterhalten, daher gab es auch keine Leselampe und keinen liegefre-
undlicheren Stuhl. In dieser Nacht schlief ich etwa zwei Stunden. Als ich früh am nächsten Morgen aus
meinem Verschlag wankte, tauchte auch der Schnarcher nebenan auf. Der magere Mann Anfang vierzig
besaß einen Rucksack und eine Aktentasche. »Gehen Sie zur Arbeit?«, fragte ich. »Ja, da kann man nichts
machen, ich jobbe im Supermarkt.«
In der folgenden Nacht wiederholten sich meine Erlebnisse. Am Tag drei, ich hatte kaum geschlafen,
fragte mich ein Kollege im Korrespondentenclub: »Finn, bist du krank? Du siehst so blass aus.« Ich
brach das Experiment ab, doch nicht ohne abends noch einmal eine Dose Happôshû, also steuergünstiges
Alkobräu, mit meinem Zimmernachbarn von ersten Abend getrunken zu haben. Tamura-san war ein gutes
Beispiel dafür, dass Japaner sich auch unter schwierigen Umständen alle Mühe geben, in der Gesellschaft
zu funktionieren - auch wenn sie schon ziemlich weit unten angekommen sind. Er gab sein Bestes in dem
Supermarktjob und hoffte dort auf die Beförderung in eine Festanstellung. Zugleich bewarb er sich weiter
um bessere Arbeitsplätze - kassierte in der Wirtschaftskrise jedoch eine Absage nach der anderen. Als ich
ihm eine zweite Dose Alkobräu vorschlug, lehnte er ab: »Ich muss schlafen, sonst kann ich morgen den
werten Kunden kein fröhliches Gesicht zeigen.«
Search WWH ::




Custom Search