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Immerhin, für 500 Yen musste er fast eine Stunde arbeiten. Ob McDonald's einen nicht rausschmeißt?
»Nein, viele vondenen haben ein Herz. Einmal, das war ganz lustig, hatte ich einen Jobbei McDonald's
inShinjuku,aberkeineWohnung.InderZeithabeichmichindernächstenFilialeanderChuo-Straßeaus-
geruhtundbindannzumJobbenwiederindieShinjuku-Straßerübergegangen.KlarhabeichalsAngestell-
ter an der Chuo-Straße die Schnarcher auch ewig in Ruhe schlafen lassen.« Er lachte laut über die eigene
Geschichte.
Als wir dieses Gespräch führten, ging es Tsuyoshi ganz gut. Er arbeitete bei einer Buchhandelskette und
konnte sich weiter das Zimmer bei der Kette »Tiger House« im Stadtteil Kanda für weniger als 400 Euro
imMonatganzgutleisten.SeineAussichtaufeineVertrags-unddannFestanstellungzerschlugsichallerd-
ings mit Beginn der Wirtschaftskrise. Er verlor den Job und arbeitete dann wieder in einem Convenience
Store. »Ich mache ständig Schichten zwischen 22Uhrabends undsechs Uhrmorgens. Eine richtige Unter-
kunft brauche ich fast nicht mehr«, scherzte er. Seine Mitbewohner im Guest House waren ebenso respekt-
able Menschen. Sie redeten sich gegenseitig mit ihrer Zimmernummer plus »san« an. Das Mädchen neben
Tsuyoshi, 201-san, hatte einen Bachelor von einer guten Uni und sogar wie Akiko in den USA studiert.
Doch sie fand in der Krise keinen Job. Ähnlich ging es 304-san, dem Jungen vom Stockwerk drüber. Er
hatte ebenfalls einen Uni-Abschluss, seine Firma hatte jedoch seinen befristeten Anfängervertrag schon zu
Beginn der Wirtschaftskrise nicht verlängert. Wenn selbst Uni-Absolventen auf dreieinhalb Quadratmetern
mit Münzdusche wohnten und keinen Job fanden, dann sah es für Tsuyoshi schwierig aus. Die ungefähr
gleichaltrigenBewohnerAnfangzwanzigstandenöfteramTreppenabsatzzusammenundklöntenüberden
Arbeitsmarkt. Andere Bewohner dieser Filiale von »Tiger House« redeten dagegen nicht miteinander. Der
Salary Man mit der Zimmernummer 407 zog sich eher zurück. »407-san geht jeden Morgen im Anzug
aus dem Haus«, sagte 304-san bei einer Zusammenkunft auf dem Treppenabsatz. »Aber geht er auch zur
Arbeit?«
»Schscht«, machte 201-san. »Du bist unhöflich! Du weißt doch, wie dünn unsere Türen sind.«
Auch Tiger House wirkte komplett sauber und ordentlich, und alle hielten sich an die zahllosen Regeln,
die im Erdgeschoss angeschlagen standen.
Viele japanische Sozialfälle nehmen sich das Leben. Mir scheint es fast so zu sein, dass die Gesellschaft
ein wenig damit rechnet, die Leute, die nicht hineinpassen, würden sich auf diese Weise selbst entsorgen.
Im Jahr 2008 haben sich in Japan 32 249 Menschen umgebracht. Im weltweiten Selbstmord-Ranking der
OECD liegen Japans Frauen auf Platz zwei, und insgesamt kommt das Land auf den dritten Platz nach
Korea und Ungarn. In der Tokioter U-Bahn hängen zwar Poster der Stadtregierung: »Wenn du nicht mehr
weiterweißt - ruf doch an!«, doch Experten bezweifeln, ob eine Hotline viel bringt. Nicht weit von Tokio,
am Fuße des Bergs Fuji, gibt es den Wald Aokigahara, in dem sich jähr - lich etwa fünfzig Menschen um-
bringen. Die Regierung hat dort bereits Schilder aufstellen lassen, mit denen sie die Verzweifelten zum
Umdenken auffordern will - der Erfolg hält sich jedoch offensichtlich in Grenzen.
Dass hinter Japans reicher Konsum- und Geschäftswelt eine Unterwelt der Obdachlosen existiert, hat
mich zunächst schockiert. Wie kann ein hoch entwickeltes Land seine Benachteiligten so allein lassen?
Japan gilt in der westlichen Wirtschaftswissenschaft schließlich als eine Art sozialistisches Land, wo jeder
einen Arbeitsplatz hat und die Gruppe einen nicht hängen lässt. Anfangs hatte ich noch geglaubt, der
Staat zahle zumindest grundsätzlich eine Stütze wie in Deutschland. Doch ich erfuhr, dass Arme in Japan
kaum etwas bekommen, jedenfalls keine Männer im arbeitsfähigen Alter. Als Fan von Japan war ich
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