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Meine Bekannte Petra war bei ihrem Besuch erstaunt gewesen, als sie die ersten Obdachlosen gesehen
hatte. Geblendet von der Pracht der Ginza und der Schönheit der Gärten hatte sie Tokio solche Armut gar
nicht zugetraut.
FürRecherchenversuchteich,näheranJapansArmeheranzukommen.DabeihalfmireinJournalistvon
Nippon Television, der Filmbeiträge zu diesem Thema machte. Fast alle der Armen reagierten überras-
chend offen auf den deutschen Journalisten. Die Benachteiligten fühlen sich von der Gesellschaft wenig
beachtet. Aufmerksamkeit aus dem Ausland kann da nur nützen. Der TV-Journalist stellte mich einem
ehrenamtlichen Sozialarbeiter vor, der Ken hieß. Mit Ken ging ich durch die »Slums von Minami Senju«,
wie die Medien das Ufer des Sumida-Flusses bereits nennen.
Wenn Japaner einen Slum bauen, dann stehen die Papphütten in Reih und Glied auf parallel aus-
gerichteten Holzpaletten, sie sind ordentlich mit blauen Planen abgedeckt, und der Polizist an der Straße-
neckekenntdieNamenderBewohner.DieObdachlosenziehenihreSchuheausundstellen siepenibelmit
den Spitzen nach außen vor die Kante ihrer Holzpalette, bevor sie ihr Heim betreten. Das beruhigte mich
ungemein: Die Japaner halten auch hier alles gut organisiert. Ken und ich hockten uns unter einer Brücke
nebeneinenMannmiteinemweißen,struppigenBart.ErlehnteaufeinerPicknickmatteanderBetonwand.
VorsichhinstreckteerseineBeineineineraltenCordhosemitgelbverkrustetenFlecken.Ertruganeinem
Fuß eine löchrige Socke. Am anderen Fuß trug er gar keine, doch der Fuß war so schwarz vor Dreck, dass
er fast genauso aussah wie der mit Strumpf.
Der Obdachlose hieß Matsui-san. Er war nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber er erzählte gerne von
früher, als er noch ein Angestellter gewesen und jeden Morgen im Anzug mit Krawatte ins Büro gefahren
war. Seine Firma war vor zehn Jahren pleite gegangen. Sein Lebensinhalt war weg, er hatte es im Bein und
litt an Schizophrenie, erzählte er und kratzte sich immer wieder an einem Ekzem am Hals. Seine Frau zog
mit den Kindern aus. Matsui-san fing schon morgens an zu trinken, konnte die Miete nicht bezahlen, irrte
durch Tokio und baute sich irgendwann seine erste Papphütte.
»Mein Nachbar hier, der hat es gut«, sagte er und zeigte auf den nächsten Karton einige Schritte weiter.
»Der hat sogar einen Aushilfsjob und verdient 150 000 Yen im Monat.« Das sind etwa 1200 Euro - ein
Betrag, mit dem ein Bewohner Berlins problemlos einen Monat lang über die Runden kommt -, in Tokio
viel zu wenig für ein würdevolleres Leben. Von dem Luxus-Obdachlosen waren jedoch nur die Beine zu
sehen und ein Schnarchen zu hören.
Über Bekannte von Bekannten lernte ich auch Leute kennen, die noch nicht richtig auf der Straße saßen,
aberschoneinigermaßentiefuntenangekommenwaren.IchverbrachteeinigeNachmittageimGemeinsch-
aftsraum eines Gästehauses, dessen Bewohner mich dann irgendwie tolerierten. »Guest Houses«, Gesuto
Hausu, vermieten winzige Zimmer mit Fernseher und Internetzugang an Leute, die in Billigjobs schuften
oder sonst wie nur wenig von echter Not entfernt sind. Nach und nach lernte ich fast alle der jüngeren Be-
wohner und ihre Nöte kennen. Tsuyoshi, 24 Jahre alt, lachte viel und erzählte besonders anschaulich aus
seinem Leben. Ich machte ihn zum Thema einer Reportage. Er bezeichnete sich als »Freeter«, das steht für
»Free Arbeiter« - Billigjobber ohne Festanstellung und richtige Wohnung.
Bevor Tsuyoshi ins Guest House eingezogen war, hatte er mal da, mal dort geschlafen. »Wenn das Geld
auch fürs Internetcafé nicht gereicht hat, bin ich im Park geblieben und ging frühmorgens zu McDonald's.
Mit einem Frühstücksset für 500 Yen habe ich mich dann noch zwei Stunden ausgeruht und den Kopf auf
die Tischplatte gelegt.«
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