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Mit einem aus der Gruppe anarchistischer Punks war ich vor der Demo ein wenig ins Gespräch gekom-
men. Yoh, 31 Jahre alt, Haare in alle Richtungen gesprayt, Patronengürtel, war mir wegen des deutschs-
prachigen Aufnähers auf der Lederjacke aufgefallen: »Gegen Nazis«. Yoh war der gleichberechtigte An-
führer von vier Anarchisten, die hier die »globale Auflösung aller Staatsordnung« forderten.
»Gegen G8! Gegen Armut! Gegen Ausbeutung!« Bei der Demo liefen nur 15 Leute mit, sie war jedoch
von 40 Polizisten in dunkelblauen Uniformen bewacht. Die Beamten kamen aus dem 1300 Kilometer ent-
fernten Hiroshima. Sie wirkten nicht ganz glücklich damit, in der Juni-Hitze in einer fremden Stadt um die
Störer herumlaufen und den Verkehr regeln zu müssen. Auch die Passanten konnten dem Protest wenig
abgewinnen, zumal Yoh nach einigen Bier seine Sprüche ziemlich laut brüllte: »Gegen alles! Verdammte
Scheiße, alles.«
»Ichweißnicht,obdieserG8-Gipfelwasbringt,aberdieseDemonstrantenstörennurdieAnwohnerund
blockieren den Verkehr«, diktierte mir am Wegesrand ein junger Angestellter in den Block. »Können die
nicht friedlicher demonstrieren?« Generell sind jungen Japanern die Globalisierungsgegner suspekt. »Ich
würde nie im Leben Attac oder so beitreten, auch nicht aus Spaß, das wäre bloß ein Riesenminus in der
Firma«, sagte Kenji.
So denken viele. Denn aufmüpfig zu sein macht sich in Japan nicht bezahlt.
In den Sechzigerjahren lieferten sich die Studenten in der Tokioter Innenstadt noch Straßenschlachten
mit der Polizei. Heute wäre das undenkbar, die junge Generation interessiert sich praktisch nur noch für
Mode und Essen. Brennende Autos wie am ersten Mai in Berlin? In Japan undenkbar. Die Gesellschaft
erlaubt nur wenig Abweichung vom normalen Lebenslauf, eine aufmüpfige Phase gesteht die Gesellschaft
denjungenLeutennichtzu.DieStaatsmachtgreiftsofortdurch,wosichProtestregt.EinentfernterBekan-
nter von mir, der 30-jährige Terumasa Uchida von der »Kommunistischen Allianz für die Revolution«, saß
siebenMonateineinerSiebenerzellemitechtenKriminellen-erhattedemonstriert,wodemonstrierenver-
boten war. »Vorher haben die Polizisten mich 23 Tage lang von morgens bis abends verhört«, erzählt er.
»Sie haben versucht, Druck auf mich auzuüben. Sie haben gesagt, meine Eltern machten sich Sorgen, weil
sieausderHaftnichtsvonmirzuhörenbekommen.«ErhabesichjedochauchvondenPsycho-Drohungen
nicht unterkriegen lassen.
Uchida arbeitet professionell als Revolutionär. Normale Bürger engagieren sich dagegen kaum in
Parteien, Organisationen oder Vereinen. Ein Politikwissenschaftler erklärte mir das Phänomen. Protest
gelte als individualistisch, und Individualismus verwechselten die Japaner mit Egoismus, der wiederum
überhaupt nicht gut ankommt. Greenpeace zählt in Deutschland über eine halbe Million Fördermitglieder.
In Japan sind es weniger als 5000.
So sicher und sauber Japan oberflächlich wirkt - dahinter versteckt das Land eine Reihe von ernsten Prob-
lemen. Auf der Durchreise bekommen Besucher noch am ehesten etwas von dem stetig wachsenden Heer
der Obdachlosen mit. Am Bahnhof Shibuya müssen die Fußgänger immer mehr Pappkartons ausweichen,
in denen Menschen wohnen. In einer Unterführung an der Ostseite nisten besonders viele von ihnen, weil
Ventilatoren hinter schwarz verkrusteten Gittern die warme Abluft des Kaufhauses Tokyu hier hinein-
blasen. Unter den Kartons sind braunfleckige alte Decken zu erkennen, in die sich die Bewohner einwick-
eln. Auf den Kartons liegen Plastikplanen, um sie etwas mehr gegen das schleimige Wasser abzudicht-
en, das von den Gleisen herabtropft. Nur wenige Meter weiter auf einer Fußgängerbrücke zelten weitere
Clochards. Auch sie stapeln ihre wenigen Habseligkeiten in Kartons um sich. Seit der Wirtschaftskrise
sitzen ganz offensichtlich mehr Leute auf der Straße als vorher.
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