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Ich sagte zum Beispiel: »Dass die Tokioter immer ihren rechtsradikalen Gouverneur Ishihara wieder-
wählen, zeigt doch, dass sie grundsätzlich erzkonservativ eingestellt sind. Deutsche Großstädte tendieren
dagegen eher nach links.«
»Mhhh. Ahhhh. Jaaa.« - Pause.
Dann nickte er. Mehrmals. Neue Pause. So war es schon beim ersten Mal gewesen, damals, als ich von
den Trauben noch die Schale mitgegessen hatte.
»Jaja,soistessicher.«-JetztheuchelteereinenneuenGedanken,eineplötzlicheIdee,diehervorzubrin-
gen bis eben gedauert hatte: »Aber sag mal …«, begann er und teilte mir dann meistens mit, dass ich total
danebenlag.»DieLeutewählenIshiharaauspuremMangelanAlternativen,undsiemögenseineklareund
lebhafte Art. Das heißt noch lange nicht, dass sie seinen Ansichten über Chinesen, Verteidigungspolitik
oder die Rolle der Frau zustimmen.« Er erklärte mir, dass Ishihara mit 24 Jahren den höchsten Literatur-
preisdesLandesgewonnenhabeundauchalsTheaterregisseurbekanntgewordensei-erseialsoausSicht
der Leute einfach keine so tumbe Nuss wie die anderen Politiker. »Die Tokioter mögen ihn nicht wegen,
sondern trotz der gelegentlichen Entgleisungen«, sagte Kenji.
Die japanische Kommunikation tastet sich also vorsichtig von hinten an den Widerspruch gegen das
bereitsGesagteheran.DieGegenredekommterstnacheinemgroßenBogenvonscheinbarerZustimmung.
Wenn sie überhaupt ans Tageslicht darf und der Japaner sich nicht einfach nur seinen Teil denkt.
Generell sieht dadurch der Diskussionsstil anders aus. Ich war ein halbes Jahr lang Mitglied einer
Kommission des Erziehungsministeriums zur Bewertung einer Berufsbildungseinrichtung, dem »Haus der
Berufe«. Die Teilnehmer diskutierten erstaunlich wenig bissig. Nie sagte ein Mitglied zu seinem Vorred-
ner: »Ich glaube, da liegen Sie völlig falsch …«, oder dergleichen - die Redebeiträge begannen über die
Parteigrenzen und verschiedenen Ansichten hinweg mit freundlichem Gegurre. Zum Schluss fand sich auf
wunderbare Weise ein Konsens, mit dem alle glücklich waren.
Eine meiner Lieblingsfiguren in der japanischen Geschichte ist ein cleverer Reishändler und Bankier,
derim18.JahrhundertinOsakawohnte.ErgehörtezurunterenSchichtderGesellschaft,wurdeaberdurch
geschickten Umgang mit den Samurai-Fürsten steinreich. Als gebildeter Händler fand er Wege zu kriegen,
was er wollte - und zwar eben nicht, indem er sich hinstellte und es direkt forderte. Auch nicht, indem
er offen und klar die Wahrheit sagte, dem Allheilmittel für alle nur erdenklichen sozialen Situationen in
amerikanischen Filmen. Sondern durch kleine Vorschläge, die sich zu einem vorteilhaften Ganzen fügten.
Damals ließ der Shogun sich Reis als Steuer aus dem ganzen Land liefern. Der Händler aus Osaka erbat
sich das Recht, den Inhalt der Schöpfkellen an den Prüfstationen behalten zu dürfen. Es reihten sich eine
Menge Prüfstationen auf dem langen Weg in die Hauptstadt. Der Prüfreis wurde zu einer ergiebigen Ein-
nahmequelle für den Händler.
Heute müssen die Japaner keine Angst mehr vor einem Feudalherrscher haben, und trotzdem gehen sie
noch sehr behutsam miteinander um. Das Wort »sanftmütig« trifft es am besten: yasashii. In Umfragen
sagte eine Mehrheit der jungen Frauen, sie wünsche sich ihren Partner yasashii. »Sanft« ist wichtig.
In der deutschen Presse habe ich den Fall eines Rentners verfolgt, den ein Gericht lebenslänglich hat
einsperren lassen. Der 66-Jährige hat seine drei Gartennachbarn mit einem Knüppel erschlagen, weil sie
offenbar ihren Müll nicht richtig weggeworfen hatten. Zwar ein ziemlicher Extremfall, aber im Kern nicht
ganzuntypischfürdenUmgangmiteinander-fandich.LauteWorteoderroheGewaltnurausRechthaberei
kommen in Japan dagegen praktisch nicht vor. Die meisten Japaner verhalten sich insgesamt viel weniger
aggressiv als Deutsche. Sie zeigen bei weitem keine so gewaltbereite Körpersprache. Einmal habe ich er-
lebt, wie es in einer Izakaya knallte und zwei Besoffene aufeinander losgingen. »Hey, ihr belästigt andere
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