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Fußboden liegt kein Fetzchen Taschentuch, und durch den Wagen rollt kein Kaffeepappbecher. Niemand
verschüttet Cola, und keiner spritzt sich Heroin. Da sieht es in Deutschland anders aus, oder?
Im japanischen Gegenstück zu den Tagesthemen kam mal ein Beitrag über eine Mittelschule in
Hokkaido,anderenAußenwandjemand»beleidigendeundobszöneAusdrücke«mit»schwarzerFarbeaus
einer Spraydose« gesprüht hatte. Die Bilder zeigten allerdings nur eine makellos gelbe Schulwand, weil
der Hausmeister die Untat schon in den frühen Morgenstunden überstrichen hatte. »Es lässt sich nicht aus-
schließen,dasseinerunsererSchülerderTäterwar«,sagtederSchulleiter.AneinemanderenTagkamgroß
die Nachricht, dass der »Dosenstehenlasser« gefasst sei. Das betraf einen Oberschüler, der beim Austragen
der Zeitung in den Morgenstunden immer leere Getränkedosen am Straßenland hatte stehen lassen, statt
sie korrekt zur Entsorgung zu geben. Auch hier zeigte das Fernsehen die Entrüstung der Anwohner über
so viel Verkommenheit. Was würde Japan mit einer Neuköllner Hauptschule anfangen? Schon ein Graffiti
und etwas stehen gelassener Müll füllen hier viele Sendeminuten voller Betroffenheit und der Suche nach
den Ursachen - da sind Probleme, wie sie einige Berliner Hauptschulen kennen, gar nicht vorstellbar. Sie
würden in den Augen der Japaner wohl den Untergang des Morgenlandes bedeuten.
Damals in Fukui war mal mein Fahrrad verschwunden. Ich kam mit Akiko aus einer Izakaya, da stand es
nicht mehr dort, wo ich es abgestellt hatte. Gestohlen, dachte ich, und zog mit Akiko zur Polizeibox, wo
sich der Wachtmeister stellvertretend für ganz Japan bei mir entschuldigte.
Am nächsten Tag rief mich die Polizei an, sie habe mein Fahrrad wiedergefunden und den Dieb gestellt.
Ich zog zur Polizeiwache, und tatsächlich bekam ich dort mein Rad wieder.
Es war gar nicht gestohlen gewesen. Ein Büroangestellter hatte es sich volltrunken geliehen, um nach
Hause zu fahren. Am nächsten Morgen schimpfte ihn seine Frau aus und schickte ihn zur Polizei, um das
Rad zurückzubringen. So sieht Fahrraddiebstahl in Japan aus.
Schon als ich zum ersten Mal am Flughafen Narita ankam, fiel mir die sanfte Art der Japaner auf. Die
direkten Nachbarn in China und Korea streiten und schimpfen gerne. Sie wirken selbst auf Deutsche zu-
weilen pampig und direkt.
Ich denke manchmal, die defensive Art der Japaner könnte etwas mit der Geschichte des Landes zu tun
haben. Wolkigpoetischen Erklärungen aus dem Dunst der Historie heraus misstraue ich zwar (und Japaner
lieben sie über alles), doch es ist offensichtlich nicht ohne Spuren für die Japaner geblieben, dass sie bis
1868voneinemwaffenstarrenden,arrogantenundwahnsinniggefährlichenKriegeradelbeherrschtwurden
- wir nennen sie heute im Westen die Samurai. Diesen Herren gegenüber erschien es weise, sich ein wenig
demütig zu verhalten. Als die Samurai im 19. Jahrhundert ihre Macht verloren, manövrierte sich eine neue
zivileEliteindiefreienMachtpositionen.GebliebenistabereinErbedesvorsichtigen,tastendenUmgangs
miteinander und mit den Autoritäten. Der Kriegeradel durfte vorher straflos köpfen, wer ihn schief ansah.
Unter solchen Umständen trat wohl keiner so richtig forsch auf. Und dabei ist es dann auch geblieben.
Wenn ich Kenji deutsch-großspurig-wichtig etwas erzählte, was er längst besser wusste, dann machte er
erst mal die berühmten Laute des Erstaunens: »Ah, ja, ja, ah …« Manchmal klingt er dabei wie Johannes
B. Kerner, wenn ihn das Schicksal eines Gesprächspartners besonders betroffen macht.
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