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»Komischer Ausländer! Na ja, dann probier mal.« Er beobachtete mich beim Essen, als erwarte er im
nächsten Augenblick einen Brechanfall.
Der Abend drohte, schwierig zu werden. Schon beim Hereinkommen war der Kellner untröstlich
gewesen, dass er keine englische Speisekarte hatte anbieten können. »Es gibt keine Entschuldigung fürun-
sere Unzulänglichkeit. Aber wir haben für Ihren amerikanischen Gast keine englische Speisekarte«, sagte
er an mir vorbei zu Yamahira.
»AllesinOrdnung«,riefichdemMannaufJapanischzu.»SolangeSieauchkeinedeutscheKartehaben,
nehme ich einfach die japanische!« Er schaute nur verwirrt.
Als sich jedoch hinter dem nächsten Vorhang das eigentliche Lokal öffnete, war ich für die Behandlung
als Außenseiter entschädigt. Der Laden lag im zweiten Untergeschoss eines Wolkenkratzers, doch der
Innenarchitekt hatte die Atmosphäre eines Wirtshauses in der Bergeinsamkeit geschaffen. Die Illusion war
so perfekt, dass der Besucher hinter den Papierfenstern die grün schimmernden Terrassen von Reisfeldern
zu erahnen glaubte. Dahinter verbargen sich in Wirklichkeit dicke Betonwände.
Jede Gruppe von Gästen saß in einem eigenen stilisierten Häuschen an einem niedrigen Tisch. Den
Boden bedeckten traditionelle Tatami, also schwere goldgelbe Matten aus Reisstroh und Binsen. Zu den
Eingängen der Hütten führten Trittsteine, zwischen die grober Kies gestreut war wie im Steingarten. An
einer Wand ergoss sich ein kleiner Wasserfall in einen Bach, der ein Rad mit Bambuskellen antrieb.
Die Jungen und Mädchen vom Personal hatten traditionelle japanische Yukata an und brachten uns eine
Speisekarte, die scheinbar per Hand auf eine Schriftrolle aus Bambusstreifen gepinselt war.
Yamahira-san füllte alle unsere Biergläser auf, die wir dann erhoben: »Kanpai!« - Prost.
Wir waren an diesem Abend sechs Leute, darunter ich als einziger Ausländer, wir alle in Hemd und An-
zughose, der Standarduniform im Tokioter Sommerleben. Ich weiß bis heute nicht, ob ich diese Treffen
als Arbeit betrachten sollte oder als Vergnügen. Yamahira-san, sein Kollege und ich waren Journalisten.
Wir versuchten an diesem Abend, aus den drei Wirtschaftsleuten herauszubekommen, was gerade in ihren
Unternehmen passierte. Warum die Manager mit uns trinken gingen, weiß ich nicht so genau. Es kann nur
zum Teil damit zu tun haben, dass wir die Rechnung bezahlten. So ungeheuer teuer war das Essen nicht.
Vielleicht wollten sie sich wichtig machen, vielleicht wollten sie einfach Kontakte knüpfen. Yamahira-san,
Universalredakteur für völlig verschiedene Themengebiete bei einer großen Zeitschrift, führte die Regie.
Als unsere Gläser mit Bier, Sake und Reisbranntwein plötzlich klirrend wackelten, blickte ich ängstlich
auf. Ein Erdbeben? »Nein, Finn-san, das war nur die U-Bahn, die hinter dieser Wand fährt«, sagte
Yamahira-san.
Als ich den Seeigel aß, spürte ich sechs Paar diskreter Blicke auf mir. Noch auffälliger zu starren wäre
unhöflich gewesen. »Er isst tatsächlich Seeigel«, meldete sich schließlich einer. »Wow, Mayer-san, das ist
ja toll.« - »Aber irgendwie ist er ein komischer Ausländer!«
Das alles war fürsorglich gemeint, aber es nervte. Langfristig war es vielleicht sogar gefährlich für
die Psyche. Ich hatte an älteren Japanveteranen eine gefährliche Sucht nach dieser übersteigerten
Aufmerksamkeit beobachtet. Nach Jahrzehnten im Land haben sie sich daran gewöhnt, im Mittelpunkt zu
stehen. Denn für die Japaner bleiben wir immer faszinierend: langnasige Wesen, die natürlich keine richti-
gen Menschen sind, aber irgendwie sprechen und Sashimi essen können - fast wie sie selbst. Das war ver-
mutlich auch der Grund, warum ich an diesem Abend dabei sein durfte.
Wie immer in Japan hatten wir gemeinsam bestellt und aßen auf kleinen Tellerchen jeder von allem et-
was. Als mein Tischnachbar, Mitarbeiter eines Großunternehmens, mir ungefragt alle Gerichte erklärte,
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